Mit jedem Tag, den Gerald in Gefangenschaft verbrachte, hasste ihn Stainlype mehr, genau wie es Matisak in seiner Nachricht an die Gefängnisleitung gesagt hatte. All der Hass von Stainlype, einst nach außen gerichtet, war nun isoliert und es gab kein Ventil mehr. Also schlug der Hass auf Gerald zurück.
Stainlype war von Natur aus weiblich, und wenn sie zu Gerald sprach, nannte sie ihn Stainlype, ein cleverer Versuch, die Ärzte auf eine falsche Fährte zu locken, aber so dumm konnten sie eigentlich nicht sein. Arnold und die Ärztin, die extra aus Washington, D.C. kam, um ihn zu sehen, konnten auf keinen Fall glauben, dass sie – Stainlype – und er – Sims – dieselbe Person waren. Auf keinen Fall …
Gerald war felsenfest davon überzeugt, dass Dr. Coran die Wahrheit kennen musste. Sie verstand sicher: Stainlype war immer noch eine so mörderische und bösartige Gewalt, dass man ihr keinen Wunsch abschlagen konnte. Wenn sie menschliches Fleisch wollte, dann würde sie sich nehmen, wonach immer sie verlangte, was immer gerade zur Verfügung stand, und im Moment war das sein Fleisch. Die Bisswunden überall auf seinem Körper bewiesen das. Bisse an Stellen, an die nicht mal ein Schlangenmensch herankäme. Das konnte Dr. Arnold nicht mit seinem Psychogelaber und Hokuspokus wegerklären.
Die Bisse waren so großflächig, dass ganze Stücke aus ihm herausgebissen waren. Die Ärzte konnten doch keinesfalls glauben, er würde sich selbst solchen Schmerz, solche Qualen zufügen, oder?
»Aber Sie haben das mit Ihren eigenen Zähnen getan, Gerald«, hatte Dr. Arnold gekontert.
»Das sind nicht mehr meine verdammten Zähne; das sind ihre, und sie beißt mich damit! Sie hasst es hier und …«
»Aber wir geben Ihnen doch hier alles, was Sie brauchen, Gerald.«
»In mir!«, rief er. »Sie hasst es, in mir gefangen zu sein, an diesem Ort, ohne essen zu können.«
Er war ihr völlig ausgeliefert, wenn Stainlype sich seiner Hände, seines Körpers, seines Geistes und seines Herzens bemächtigte. Wenn sie ihn benutzte, hatte er keine Kraft, sie davon abzuhalten, diese Mädchen zu fressen. Stainlype hatte einen unstillbaren Appetit auf junges Fleisch.
Jetzt war er mit ihr in Zelle Nummer HI-32 weggesperrt. Er teilte sich den Zellenblock mit einer Ansammlung berüchtigter Serienkiller, von denen viele studiert, beobachtet, gefilmt und getestet wurden, wie Ratten in einem Labor.
Neben seiner Zelle war Dominick Jeffries, »der Sammler«, und ein Stück den Gang entlang »Mad« Matthew Matisak, bei manchen als »Teach« bekannt, der den Mittleren Westen mit einer weitreichenden, bluttriefenden Mordserie überzogen hatte, bei der die Opfer jedes Tropfen Blutes beraubt worden waren, damit er seinen Durst danach löschen konnte. Sie nannten Matisak einen Vampir, einen echten Dracula. Gerald gehörte nicht hierher zu diesen Monstern; Stainlype schon, aber nicht er.
Dr. Coran war nett zu ihm gewesen, als sie das letzte Mal hier gewesen war, und sie war so hübsch, hatte reine, glatte Haut und sanfte Augen, die glänzten, und diese Lippen, die sie häufig mit der Zunge benetzte. Sehr hübsch, eingerahmt von kastanienfarbenem Haar. Die haselnussbraunen Augen rundeten den Eindruck ab. Stainlype, die sich mittlerweile weigerte, mit Dr. Coran oder Dr. Arnold zu reden, flüsterte ihm zu, dass Dr. Coran sehr lecker aussah. Stainlype sorgte dafür, dass ihm fast die Augen aus dem Kopf traten, als sie versuchte, durch das fünf Zentimeter dicke Glas einen guten Blick auf sie zu erhaschen.
Dr. Coran hatte ihm gesagt, sie freue sich, zu sehen, wie viel Fortschritt Dr. Arnold und er in letzter Zeit gemacht hatten. »Auch wenn es noch weit von einem Durchbruch entfernt ist«, sagte sie, »scheint es, dass Sie endlich Verantwortung für Ihre eigenen Taten übernehmen und Stainlypes Bemühungen, Ihnen wehzutun, gestoppt oder verlangsamt wurden.«
Das war vor einem Monat gewesen. Er hatte ihr zugestimmt, so wie Stainlype es ihm gesagt hatte. Sie nahm ihre Unterhaltung mit der Kamera auf, die Linse befand sich direkt vor seinem Glaskäfig und starrte ihn an, wie ein allgegenwärtiges böses Auge. Er vergaß fast, dass die Kamera da war, die 24 Stunden täglich aufzeichnete, bis sie zu ihm kam. Dann störte es ihn, machte ihn nervös und zappelig.
Dr. Arnold hatte es als Fortschritt betrachtet, dass Stainlype sich so lange nicht mehr gezeigt hatte. Anscheinend auch Dr. Coran. Aber Stainlype war immer noch bei ihm, wartete auf ihren Moment und hatte keine Lust mehr auf Ärzte und Unterhaltungen. Was wussten die Ärzte denn schon? Sie konnten ja nicht die schleimige Spur fühlen, die Stainlype wie eine Schnecke in seinem Kopf hinterließ, oder das bleierne Gefühl, wenn sie sich durch die verdrehten Gänge seiner Eingeweide wand und schlängelte, sein Herz quetschte und wie ein Schatten über die Iris seiner farblosen Augen huschte. Nein, Stainlype war kein bisschen schwächer, sie wartete nur geduldig.
Dr. Coran zwang Gerald dazu, sich im Detail erneut vor Augen zu rufen, was sie diesen Frauen angetan hatte, was sie mit ihrem Fleisch getan hatte, wie sie seinen Körper dazu gebracht hatte, sich auf sie zu legen, als sie tot waren, und ihn dazu zwang, fleischliche Begierden an ihnen auszuleben. Dr. Coran hatte ein Wort dafür: Nekrophilie. Zu wissen, dass es ein Wort dafür gab, half nur ein bisschen, so wie wenn man Salbe auf eine Wunde streicht. Dr. Coran brachte ihn dazu, zu erzählen, wie Stainlype die Frauen in den Tod gelockt hatte, wie sie sie geschlagen hatte, welche Waffen sie verwendet hatte und was danach passiert war, der Kannibalismus und alles andere. Dr. Coran sagte ihm, es sei gut, wenn er die Ereignisse noch einmal durchlebte, und was sie von ihm erfuhr, helfe dem FBI und den Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land, und dass man über seinen Fall in Fachmagazinen berichten würde. Er hatte alles vergessen wollen, aber sie hatte ihn dazu gebracht, sich zu erinnern, und erst als sie begonnen hatte, ihn zu besuchen, hatte er erfahren, dass der Dämon in ihm eine Frau war.
Dr. Arnold nannte das Fortschritt.
Gerald hatte ihnen beiden deutlich gemacht, dass er während der furchtbaren Attacken zwar sehen und hören konnte, was um ihn herum vor sich ging, aber Stainlype sich aus dem Staub gemacht hatte mit seinem Tastsinn, Geschmackssinn, motorischen Fähigkeiten, seinen kraftvollen Armen und Beinen, den Händen, die die Morde begingen, dem Mund und den Zähnen, die das Fleisch aßen. Stainlype war frustriert und wütend und ihr Zorn richtete sich mehr und mehr gegen ihn, wie an den neuen Bissen zu sehen war. Er hatte zu viel Angst, um Dr. Arnold zu sagen, wie sich seine schlimmsten Ängste zu erfüllen schienen, denn Arnold würde dafür sorgen, dass die Wärter ihn wieder festschnallten, Stainlype damit noch mehr einengten und ihren brennenden Hass schürten, der sich gegen den Körper wandte, den sie all die Jahre besessen hatte. Dr. Arnold würde ihm die Privilegien wieder wegnehmen, die er jetzt genoss, einen Stapel Comics, ab und zu eine Zeitung, ein Kartenspiel.
Stainlype beschwerte sich ständig, dass Gerald es zugelassen hatte, in einem riesigen Betonklotz eingesperrt zu sein, aber er fühlte sich wie ein freier Mann im Vergleich zu dem Gerald Ray Sims, der fast ein Jahr in einer Gummizelle zugebracht hatte, in der er ständig fixiert worden war.
»Freier Mann«, schnaubte Stainlype verächtlich. »Das soll wohl ein Witz sein.«
Dr. Coran arbeitete für das FBI und redete zuerst nur mit Matisak, der ein wenig den Gang runter seine Zelle hatte, aber dann fing sie an, auch Gerald zu besuchen. Sie sagte Gerald, dass sie ihn gut leiden konnte. Wo war sie dann jetzt? In Quantico, Virginia, hatte Arnold gesagt, und der war auch keine Hilfe. Er sagte immer wieder: »Du bekommst etwas, wenn du ihr auch etwas gibst, Gerald. Du musst schon kooperieren, wenn du willst, dass sie den langen Weg bis zu dir auf sich nimmt.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt«, antwortete er, »ich kann ihr nicht mehr darüber erzählen, wo die Leichen vergraben sind. Stainlype hat mich gewarnt, wenn ich noch etwas sage, dann wird sie mich töten!«
»Aber was kann Ihnen Stainlype schon tun? Und davon abgesehen, wieso sollte es sie interessieren, was Sie uns erzählen, Gerald?«
»Das interessiert sie … und zwar ziemlich.«
»Wieso?«
»Ich