Jesus. Timothy Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Timothy Keller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религиозные тексты
Год издания: 0
isbn: 9783765570889
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      Sie sah mich an und sagte: „Das Christentum ist ja voll verrückt! Wer lebt denn so?“

      Wir setzten uns, um uns weiter zu unterhalten, und ich sagte ihr: „Jesus sagt ja wirklich: ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‘“

      Sie erwiderte: „Also, da müsste ich erst mal genauer wissen, wer mein Nächster ist. Das kann doch nicht jeder sein. Wie weit um unser Haus herum reicht diese Regel in der Bibel?“ Sie fuhr fort: „Und dann möchte ich auch wissen, was ich genau alles machen muss für meinen Nächsten.“

      Hören Sie die Angst in ihrer Frage? Das Mädchen war nicht selbstgerecht oder moralisierend, aber diese Liebe Gottes durch Jesus Christus, die sie annahm, so wie sie war, hatte sie noch nicht erfahren. Daher bestand für sie der Sinn des Gebotes darin, sicherzustellen, dass sie vor Gott und ihren Mitmenschen als „gut“ dastand und entsprechend behandelt wurde. Sie hatte nicht die innere Sicherheit, mit einem Gebot umzugehen, dass ein Leben der Liebe und des Gehorsams mit breiten, allgemeinen Pinselstrichen malt. Sie wollte es genau wissen, es haarklein ausgemalt haben, damit sie, wenn sie das Gebot befolgen würde, sich beruhigt zurücklehnen konnte. Wir alle neigen zu dieser Angst, nur dass einige von uns gelernt haben, sie besser zu verbergen, als dieses junge Mädchen das konnte.

      In der Religion hat das Befolgen des Gesetzes den Sinn, sicherzustellen, dass Gott mich annimmt. Die logische Folge ist, dass ich Gesetze detailgenau befolgen muss. Ich will ganz genau wissen, was ich zu tun und zu lassen habe, denn ich darf ja nichts falsch machen. Ich frage nicht nach dem Geist und Sinn des Gebotes, sondern starre auf die Details; wenn ich das und das tue, diese Liste abhaken kann, dann weiß ich, dass ich das Gebot befolge. Im Leben des Christen funktioniert das Gesetz Gottes – obwohl es immer noch gilt – völlig anders. Es zeigt mir das Leben der Liebe, das ich vor dem Gott leben möchte, der so viel für mich getan hat. Gottes Gebot holt mich aus meiner Ichbezogenheit heraus; es zeigt mir, wie ich Gott und meinen Mitmenschen dienen kann, anstatt um mich zu kreisen. Ich vertiefe mich in die Gebote Gottes und befolge sie, um zu lernen, wie ein Leben aussieht, das dem, der mich erschaffen und von meiner Sünde und ihren Folgen erlöst hat, gefällt und ihm entspricht. Und auf keinen Fall werde ich es verbiegen oder „mundgerechter“ machen, indem ich es durch menschengemachte Regeln ergänze.

      Der Herr des Sabbats

      Angesichts dieses religiösen Übereifers sagt Jesus: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch des Sabbats“ (Markus 2,27-28). Er bekräftigt, ja feiert den Grundgedanken des Sabbats – dass wir ruhen müssen –, aber er verurteilt alle Gesetzlichkeit, die sich um die Sabbatausübung rankt. Er demontiert das ganze Grundmodell der Religion, und er tut dies, indem er auf seine Identität verweist.

      Jesus hätte göttliche Vollmacht zur Änderung des Sabbats beanspruchen können, indem er etwa so gesagt hätte: „Ich bin der Herr über den Sabbat.“ Aber er sagt noch viel mehr.

      Das Wort Sabbat meint eine tiefe Ruhe, einen tiefen Frieden. Es ist fast ein Synonym zu Shalom, das einen Zustand des Heils und Gedeihens in allen Bereichen des Lebens bedeutet. Wenn Jesus sagt: „Ich bin der Herr des Sabbats“ (ELB), meint er damit, dass er der Sabbat ist. Er ist die Quelle der tiefen Ruhe, die wir brauchen. Er ist gekommen, um die Art, wie wir ruhen, vollständig zu verändern. Der eine wöchentliche Ruhetag ist nur ein matter Spiegel der tiefen göttlichen Ruhe, die wir brauchen, und Jesus ist ihre Quelle.

      Jesus sagt: „Ich bin der Herr des Sabbats; ich kann euch Ruhe geben.“ Was bedeutet das?

      Wenn Jesus uns auffordert, zu ruhen, will er zunächst einmal, dass wir uns, körperlich und innerlich, regelmäßige Auszeiten von unserer Arbeit gönnen. Aber es gibt noch eine andere, tiefere Ebene des Ruhens. In 1. Mose 2,2 lesen wir, dass Gott nach seinem Schöpfungswerk ruhte. Warum tat er das? Weil er müde war? Nein, Gott wird nicht müde. Aber wie konnte er dann ruhen? Nun, ein anderer Grund zum Ausruhen ist, dass man mit einer Arbeit so rundum zufrieden ist, dass man sie aus der Hand legen kann. Erst dann, wenn ich über meine Arbeit sagen kann: „So, das wäre geschafft! Ich bin richtig zufrieden“, kann ich sie loslassen und etwas anderes machen. Als Gott die Welt fertig erschaffen hatte, sagte er: „Es ist gut.“ Und er ruhte.

      Der Film Die Stunde des Siegers basiert auf der wahren Geschichte zweier Sprinter auf der Olympiade in Paris 1924. Der eine, Eric Liddell, war ein schottischer Christ, der sich weigerte, am Sonntag zu laufen. Das Ergebnis: keine Medaille in einem Lauf, bei dem er der Favorit gewesen war. In dem Film geht es zum Teil um das Thema „Ruhetag“. Aber er eröffnet noch eine weitere Dimension, indem er Liddell mit dem anderen Sprinter, Harold Abrahams, in Kontrast setzt. Abrahams und Liddell wollten beide die Goldmedaille gewinnen. Aber für Abraham war dies ein Akt der Selbstbestätigung. In einer Szene sagt er über den bevorstehenden Hundertmeterlauf: „Ich habe zehn Sekunden, um meine Existenz zu rechtfertigen.“ Er versuchte, sich selbst zu beweisen. Liddell dagegen wollte einfach dem Gott gefallen, der ihn bereits angenommen hatte. Darum sagte er zu seiner Schwester: „Gott hat mich schnell gemacht, und wenn ich laufe, spüre ich seine Freude.“ Harold Abrahams war selbst dann erschöpft, wenn er ausruhte; Liddell ruhte selbst dann, wenn er das Letzte gab. Warum? Weil unter unserer Arbeit eine andere Arbeit liegt, von der wir uns wirklich ausruhen müssen. Es ist der Stress der Selbstrechtfertigung. Es ist die Schwerarbeit, die uns so oft Zuflucht in der Religion suchen lässt.

      Die meisten von uns plagen sich ab, um sich selbst zu beweisen; wir wollen Gott, unseren Mitmenschen und uns selber zeigen, wie gut wir sind. Dieses Laufen im Hamsterrad wird nicht eher aufhören, bis wir im Evangelium Ruhe finden. Am Ende der Schöpfung sagte Gott: „Es ist vollbracht“, und ruhte. Am Kreuz, am Ende seines Erlösungswerkes, sagte Jesus ebenfalls: „Es ist vollbracht“ – und seitdem können wir ruhen. Am Kreuz hat Jesus sein göttliches „Es ist genug“ gesagt über die eigentliche Arbeit, die hinter unserer Arbeit steht, über den Stress, der uns eigentlich müde macht, über dieses Bedürfnis, uns selber zu beweisen, weil das, was wir sind und tun, nie gut genug ist. Er hat das Leben gelebt, das Sie hätten leben sollen, und den Tod erlitten, den Sie hätten sterben sollen. Wenn Sie sich auf das vollbrachte Werk Jesu verlassen, wissen Sie, dass Gott Sie angenommen hat, und können mit Ihrem Leben zufrieden sein. Die Ärzte sagen uns, dass wir nicht nur hin und wieder ein Nickerchen brauchen, sondern echten, tiefen Schlaf. Sie können so oft Urlaub machen, wie Sie wollen – solange Sie nicht dieses tiefe Ruhen der Seele kennen, dieses Ruhen in dem, was Jesus am Kreuz getan hat, werden Sie nicht wirklich zur Ruhe kommen. Dort am Kreuz hat Jesus die ganze Ruhelosigkeit der Trennung von Gott durchlitten, damit wir in der tiefen Ruhe leben können, zu wissen, dass er uns liebt und dass unsere Sünden vergeben sind.

      „Ich bin“

      Jesus sagt, dass er der Herr des Sabbats ist. Sein Selbstbewusstsein ist erstaunlich. Kein anderer menschlicher Lehrer hat je behauptet, was er behauptet. Viele haben gesagt: „Ich bin das göttliche Bewusstsein.“ Aber sie meinen damit eine „Göttlichkeit“ in allen Menschen, ja sogar in den Bäumen und Felsen. Jesus dagegen geht es um einen Gott, der unerschaffen und ohne Anfang ist, unendlich transzendent, der diese Welt gemacht hat und alles im Universum in Gang hält, sodass alle Moleküle, alle Sterne, alle Sonnensysteme von der Macht dieses Gottes erhalten werden. Und Jesus sagt: Das bin ich.

      Und er sagt das immer wieder. Seine Selbstbezeichnungen in den Evangelien sind unverkennbar und einzigartig: „Ich bin das Brot des Lebens“; „Ich bin das Licht der Welt“; „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“; „Ich bin der wahre Weinstock“; „Ich bin der gute Hirte.“ Es ist bezeichnend, dass Jesus die Formulierung „Ich bin“ gebraucht, denn das ist der Name, mit dem Gott sich selbst bezeichnete, als er sich Mose offenbarte. Es ist ein Name, der den Israeliten so heilig war, dass sie ihn nicht auszusprechen wagten. Und diesen Namen beansprucht Jesus für sich selber!

      Was sagte Jesus noch zu dem Gelähmten? „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Damit sagte er praktisch, dass alle Sünden Sünden gegen ihn sind. Da man nur solche Sünden vergeben kann, die sich gegen einen selbst richten, und da Sünden Vergehen gegen Gott sind, beansprucht Jesus hier, Gott zu sein.

      Jeder Prophet oder religiöse Lehrer, jeder Weise, der je gelebt hat, hat seine Aussagen maximal