»Lehrer! Anstatt Dummheiten zu reden, könntest du etwas Gescheites tun ... Geh dort zu dem Brett mit der Apotheke ... Siehst du die runde schwarze Flasche? Daneben steht ein Glas ... Schenk es voll!«
Schatakhian, glücklich, einen realen Auftrag erhalten zu haben, gehorchte und brachte das große, bis zum Rand gefüllte Glas, das weithin nach Maulbeerschnaps duftete:
»Da hast du dir aber die richtigste Medizin verordnet, Apotheker.«
Er schob seinen Arm unter Krikors Kopf, stützte ihn auf und führte das Glas an seinen Mund. Der Weise von Yoghonoluk leerte es in langen Zügen, so wie man Wasser trinkt. Keuchend fiel er zurück. Nach einer Weile aber bekam sein Gesicht Farbe, und in seine Augen trat spöttische Lustigkeit.
»Das ist ... gegen den Schmerz ... Jetzt aber muß ich allein sein ... Geh schlafen, Schatakhian ...«
Der Gesichtsausdruck und die belebtere Stimme des Kranken beruhigten den Lehrer:
»Ich werde morgen zu dir kommen, Apotheker, sehr früh ...«
»Ja, komm morgen ... so früh du willst ... Jetzt aber könntest du noch die Lampe auslöschen ... Es ist schon das letzte Petroleum ... Dort meine kleine Kerze ... zünde sie an. Stell den Leuchter auf die Bücher hinauf ... so ... Das ist alles ... geh schlafen, Schatakhian ...«
Als der Lehrer schon hinter der Büchermauer war, zögerte er noch einmal, drehte sich um und schaute seinen Meister an:
»Ich würde mich an deiner Stelle wegen des Oskanian nicht kränken, Apotheker, wir haben ihn ja immer erkannt ...«
Der letzte Rat Schatakhians war völlig überflüssig. Der Apotheker lebte jetzt in einer Welt der tiefsten Ruhe, in der lächerliche Figuren wie Oskanian keine Rolle spielten. Er sah gerade vor sich hin, ohne den Blick zu rühren, und genoß die große Wonne der Schmerzlosigkeit. Sein Herz war unendlich heiter. Er zählte seine innere Barschaft. Wie leicht war sein Gepäck, wie glücklich war er. Er verlor keinen Menschen, und ihn verlor kein Mensch. All dieses Menschliche lag unermeßlich weit zurück und hatte wahrscheinlich nie bestanden. Krikor war gewiß immer Krikor gewesen, ein Mann ohne die Eigenschaften der andern. Das Volk bejammerte diejenigen, welche in solchen Augenblicken einsam sind. Der Apotheker begriff das nicht. Gab es etwas Herrlicheres als diese Einsamkeit? Ein Gefühl trockener Sauberkeit von Kopf zu Füßen, ein Gefühl, keine Verpflichtungen zu haben und in Ordnung zu sein. Kein fremder Zusatz trübte das atmende Fluten des reinen Ich. Und das Blut in diesem Fluten kam immer mehr in Bewegung. Eine prachtvolle Wärme stieg auf. Krikor merkte, wie seine Glieder wieder beweglich wurden, wie seine Gelenke die Steifheit verloren. Mit einem Ruck, der ihm gar nicht weh tat, wandte er sich dem Licht zu. Kleine weiße Motten und große dunkle Nachtfalter tanzten um die Flamme. Krikor dachte: Wenn das so weitergeht, werde ich gesund werden. Aber dies war ihm gar nicht wichtig. Sein Geist begann dem Faltertanz nachzusinnen. Große und eingebildete Worte stiegen wie Blasen auf, ohne daß Krikor Macht über sie hatte. »Die Zentralsonne des Polyodorus.« Gab es das, oder gab es das nicht? Gleichviel! Um die Zentralsonne des Polyodorus tanzten die Schleierplejaden und die Spinnwebenneaden, Sternhaufen in Schmetterlingsform, deren feine Materie aus dem Aschenstaub verbrannter Welten gebildet ist, wie der arabische Astronom Ibn Saadi schon nachgewiesen hat. Was alles hätte aus ihm in Europa werden können. Der Esel Schatakhian! Krikor von Yoghonoluk war stolz wie ein Gott, da er die grauen Welten um die Zentralsonne tanzen sah. So stolz war er, daß er sich selbst verlor und einschlief. – Das Erwachen aber war schrecklich. Die Koje hatte sich unbegreiflich verengt. Krikor sah fast nichts mehr. Die Nachtfalter hatten sich vertausendfacht und deckten das Licht der schlechten Kerze fast völlig ab. Der Kranke bekam keinen Atem, brach in verzweifelte Gurgelrufe aus und krümmte sich hoch, der Schmerzen nicht achtend. Äußerlich gesehn war's ein Erstickungsanfall, doch innerlich etwas weit Grauenhafteres. Das Gefühl eines ungeheuren Nicht-Aushaltens, aber nicht etwa im zeitlich vorübergehenden Sinn, sondern ein Nicht-Aushalten, das sich in alle Ewigkeit verewigt. Wenn es eine Hölle gab, mußte dies ihre große Strafe sein. Und dies verewigte Nicht-Aushalten hatte einen ganz bestimmten Inhalt. Wissendes Nichtwissen oder nichtwissendes Wissen wäre eine matte Bezeichnung gewesen für dieses Meer von Halbheit, von angefangenen Erkenntnissen, schnell geschmolzenen Gedanken, unbegriffenen Lehren, festgefressenen Irrtümern. Nicht-fertig-Werden mit dem Kleinsten! Grausige Ohnmacht des Geistes, der an jedem Grashalm zerschellt! In diesem Meer voll ekelhafter Trümmer glaubte Krikor zu ertrinken. Er wollte sich retten, fliehen. Röchelnd kroch er vor, tastete sich hoch, klammerte sich an der Büchermauer fest. Als er in seiner Schwäche den Halt verlor und rücklings auf sein Lager fiel, riß er die obersten Schichten der Bücherwand mit sich und die verlöschende Kerze dazu. Polternd stürzten sich die Bücher auf Krikors Körper, als wollten sie ihren Herrn umarmen und festhalten. Der Kranke lag sehr lange so, wie er gefallen war, zufrieden, daß er wieder atmen konnte und daß der Erstickungsanfall des Nichtwissens ihn freigegeben hatte. Wie Wellen kamen die Schmerzen jetzt wieder. Jeder Finger brannte, als habe er ihn eben aus dem Feuer gezogen. Da leisteten dem Apotheker die Bücher noch einmal einen großen Dienst, die gelesenen, die ungelesenen, die durchblätterten, die geliebten. Er steckte seine brennenden Hände zwischen die Seiten. Das Innere der Bände war so kühl wie Wasser. Und mehr als das. Eine neue eisige Ruhe strömte aus dem Geistesblut der Bücher in das seine. Er erkannte jedes einzelne noch mit seinen tauben und blinden Fingern. Eine letzte leise Anwandlung: Schade um diese Freude. Dann ließ das Brennen nach, Zug um Zug. Der letzte Schmerz sah sich noch einmal um. Die sanfte Empfindungslosigkeit stieg immer höher. Durch die Balkenritzen zuckte ein bleiernes Grau. Krikor merkte es nicht, denn etwas sehr Großes geschah mit ihm. Es begann damit, daß ihn ein stilles Bewußtsein durchflutete, so, als poche jeder Schlag des versickernden Pulses: Ich bin die erste Person, ich bin die erste Person. Dann begann das, was Krikor von Yokhonoluk hieß, zu wachsen. Dies aber ist schon eine Fälschung. Worte, die nach Zeit und Raum gerichtet sind, drücken es nicht aus. Vielleicht wuchs nicht das, was Krikor von Yoghonoluk hieß, sondern das, was die Welt war, schrumpfte ein. Ja, die Welt zog sich mit rasender Schnelligkeit zusammen, die Baracke, die Stadtmulde, der Musa Dagh, die Heimat unten und was sie umgab. Anders konnte es gar nicht sein. Sie hatte keine Dichtigkeit, da sie aus der Asche verbrannter Sterne bestand. Zuletzt war nur mehr Krikor von Yoghonoluk allein da. Er war das All, nein, er war mehr als das All, denn die Nachtfalter der Welten tanzten um sein Haupt, ohne daß er es merkte.
Fünftes Kapitel
Die Altarflamme
Ter Haigasun hatte nach einer langen Rücksprache mit Pastor Aram und Altouni die Verfügung getroffen, es solle mit den vorhandenen Resten nicht mehr gespart werden. War's nicht ganz und gar sinnlos, das Leben zu strecken und damit auch seine Qual? Schon gab es, ehe der wirkliche Hunger noch eingesetzt hatte, Entkräftete genug, Weiber, Kinder, alte Leute, die einfach hinfielen und nicht wieder aufstanden. Dieses langsame Aufgeriebenwerden entpuppte sich als die schlimmste Form des Untergangs. Der Priester war willens, den Prozeß abzukürzen. Besser, noch ein paar Tage lang sich satt zu essen und dann dem Nichts gegenüberzustehn, als dieses Nichts um den Preis ewig brennender Eingeweide für eine lächerliche Spanne hinauszuschieben. In den ersten Septembertagen wurden also die zwei mageren Kühe des Hauses Bagradian sowie alle Ziegen, Böcke und Geißen geschlachtet, ohne Rücksicht auf die Milch, die ihrer Menge und ihrem Gehalt nach nichts mehr bedeutete. Dann kamen die Pack- und Reitesel an die Reihe, deren ledernes Fleisch freilich weder am Bratspieß noch auch im Kochtopf garzubekommen war. Immerhin, das Großvieh ergab, bis auf Knochen und Blut verwertet, mit Schwanz, Haut, Huf und Kutteln, mächtige Nahrungsberge, welche die Mägen zugleich füllten und peinigten. Dazu kam noch der Zucker und Kaffee Rifaat Berekets, ungefähr ein viertel Pfund auf jeden Haushalt. Der Sud aber wurde immer wieder von neuem aufgekocht, so daß die Kaffeekannen, dem evangelischen Ölkrüglein gleich, nicht leer wurden. Von diesem Trank ging wenn auch nicht Heiterkeit und Zuversicht, so doch eine angenehme Ergebung in die Minute aus. Als beinahe