Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835543
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millet. Du weißt, daß ich meine Arbeit dem Frieden zwischen unsern Völkern gewidmet habe, der nun zerstört ist, für immer ...«

      Er brach die litaneiartigen Worte ab. Dann hing sein bekümmerter Blick an dem Gesicht dieses einst so jugendlich gepflegten Europäers. Er hätte die wilden, zusammengeschobenen Züge im krausen Bart nie wiedererkannt. Er versenkte sich eine Weile lang in sich selbst, ehe er wieder anhob:

      »Schuld ist hier und dort ... Ich sage das nur, damit sich trotz aller Geschehnisse dein Urteil nicht verwirre und dein Herz nicht verhärte.«

      Gabriels Gesicht wurde noch kleiner und grauer:

      »Wer dort ist, wo ich bin, der weiß nichts mehr von Schuld. Mich kümmert keine Schuld mehr, kein Recht und keine Rache ...«

      Rifaats Hände standen still:

      »Du hast deinen Sohn verloren ...«

      Bagradian hatte zufällig in seine Tasche gegriffen. Dabei war ihm die griechische Münze in die Hand geraten, die er als Amulett immer bei sich trug. »Dem Unerklärlichen in uns und über uns.« Er hielt sie hoch: »Dein Geschenk hat mir wenig Glück gebracht, Agha. Die Münze mit dem Königskopf hab ich an dem Tag verloren, da ich meinen Sohn verloren habe. Und die andre ...«

      »Du kennst deinen letzten Tag noch nicht.«

      »Er ist sehr nahe. Und doch kommt er mir viel zu langsam. Oft möchte ich hinuntersteigen zu den Euren, damit nur schon endlich, endlich alles vorbei ist.«

      Der Agha sah auf seine leuchtenden Hände herab:

      »Du wirst dein Leben nicht erniedrigen, sondern erheben. Ihr Bagradians habt mehr Kräfte als andre Menschen ... Doch alles steht bei Gott.«

      Neben Rifaats gekreuzten Beinen lag die gelbe Aktentasche und auf ihr, schon vorbereitet, der Brief Pastor Harutiun Nokhudians an Ter Haigasun:

      »Du weißt, Bagradian, daß ich schon seit Monaten unterwegs bin, um für euch zu wirken. Die Ruhe meines Alters hab ich dahingegeben. Und ich werde auch noch bis nach Deïr es Zor mit Gottes Hilfe kommen. Mein erster Weg in Syrien aber war zu dir. Ihr habt Freunde im Ausland und im Innern. Ein deutscher Pastor hat viel Geld für euch gesammelt und ich stehe mit ihm in Verbindung. Fünfzig Sack Weizen habe ich aufgebracht. Es war nicht leicht. Sie haben sie nicht durchgelassen. Ich dachte mir's gleich. Dem Kaimakam aber wird es nicht gelingen, sie zu konfiszieren. Sie werden euren Brüdern in den Lagern zugute kommen ... Diese Säcke aber waren nicht der Grund, warum ich's auf mich genommen habe, den Musa Dagh zu ersteigen ...«

      Er händigte Gabriel den Brief Nokhudians aus:

      »Auf diesem Blatt erfahrt ihr, was ihr sonst nie erfahren hättet, das Schicksal eurer Landsleute. Zugleich aber möget ihr wissen, daß unser Volk nicht nur aus Ittihad, Talaat, Enver und ihren Knechten besteht. Denn viele haben wie ich ihre Wohnstätten verlassen und reisen nach Osten, um den Verhungernden zu helfen ...«

      Gewiß, der Agha Rifaat Bereket war ein wunderbarer Mann, würdig, daß Gabriel im Namen des Volkes vor ihm niedergekniet wäre. Doch all diese umständlich aufgezählten Wohltaten und Strapazen lösten nicht die Bitterkeit in seiner Seele. So groß die Opfer auch waren, der Hinweis auf sie machte ihn ungeduldig:

      »Den Verschickten werdet ihr vielleicht helfen, uns nicht ...«

      Der Alte blieb unwandelbar gemessen:

      »Dir könnte ich wohl helfen. Dies ist auch der wichtigste Grund, warum ich in deinem Zelt hier sitze.«

      Und nun floß im eintönigen Paßschritt der Worte ein Rettungsplan von des Agha Lippen, der Gabriels Herz stillstehen ließ. Bagradian habe die fünf Männer der Begleitung draußen gewiß gesehen, so begann Rifaat Bereket. Die beiden Alten seien Mitglieder der frommen Bruderschaft, die derselben Aufgabe dienten wie er – die beiden Eseltreiber langjährige Diener seines Hauses in Antakje. Was aber den fünften Mann anbelangt, so habe es mit dem eine weit schwierigere Bewandtnis. Er trage den Tod von vielen Armeniern auf dem Gewissen, sei aber in Stambul vom Scheich der »Herzensdiebe« Achmed belehrt und bekehrt worden. Er habe ein Gelöbnis abgelegt, für die Tat seiner niedrigen Seelenkräfte Buße zu tun und an den Armeniern wiedergutzumachen, was sein Haß an ihnen verbrach. Dieser Mann sei also bereit, mit Gabriel Bagradian die Kleider zu tauschen und zu verschwinden. Auf dem Kirchplatz habe der Müdir die Pässe aller Männer genau vidiert und die Namen in einer Liste verzeichnet. Bei der Rückkehr werde gewiß niemand mehr die Teskerés noch einmal abverlangen. Sollte der Müdir aber wider alles Erwarten doch Schwierigkeiten machen, so habe der verschleierte Bagradian einfach den Paß seines Doppelgängers vorzuweisen. Auch der Mülasim und seine Soldaten – sie haben sechs Personen eskortiert und nehmen sechs wieder in Empfang – würden nicht den leisesten Verdacht fassen, daß eine dieser Personen vertauscht worden sei. Ihm, dem Agha, einem ehrenhaften Mann, gingen solche polizeiwidrigen Unregelmäßigkeiten gegen die Gesinnung, hier aber gelte es, den Letzten der Familie Bagradian in die sichere Hut seines Hauses zu Antakje zu bringen. Er tue dies für die Seelenruhe und das Andenken des verewigten Awetis, von dessen Freundschaft er unzählige Beweise empfangen habe, er als blutjunger Türke von dem alten Armenier.

      Gabriel erstickte. Das Segel des Lebens blähte sich so mächtig in seiner Brust, daß er vor den Zelteingang stürzte, um Luft zu bekommen. Er sah die Begleiter, wie sie schweigsam auf der Erde hockten. Er sah den Mann des Gelöbnisses, der längst seinen Schleier abgelegt hatte. Ein stumpfes, gewöhnliches Gesicht, dem man weder die Armeniermorde noch auch den Sühneentschluß anmerkte. Er sah den Kreis der Volksmenge, die von wilder Spannung geschüttelt schien. Er sah Iskuhi, die vor dem Krankenzelte stand. Und auch sie war fern und unwirklich wie alles andre. Wirklich war nur der Gedanke des Lebens: ein dunkles Zimmer in Rifaats Haus. Die Holzladen des Fensters, das in den Brunnenhof hinausgeht, sind geschlossen. Und hier, alles vergessend, nichts mehr wissend, einer neuen Geburt entgegenwarfen ... Als Gabriel nach einigen Minuten, wieder ruhig geworden, in das Scheichzelt zurücktrat, küßte er die Hand des Alten:

      »Warum bist du nicht damals gekommen, Vater, als alles noch leicht war, als wir unten in der Villa lebten ...?«

      »Ich habe sehr lange gehofft, es sei von euch abzuwenden. Für dich aber ist es noch immer abzuwenden.«

      »Nein, auch für mich ist es nicht mehr abzuwenden.«

      »Fürchtest du dich ...? Wir werden die Nacht abwarten. Es ist nicht die geringste Gefahr dabei.«

      »Tag oder Nacht?! Nicht das ist es, Agha!« Er machte eine kleine schamhafte Pause: »Meine Frau ist erst heute vom Tode erwacht.«

      »Deine Frau? Du wirst andre Frauen finden.«

      »Mein Kind liegt hier oben ...«

      »Du hast die Pflicht, deinem Stamm einen neuen Sohn und Fortführer zu schenken.«

      Die schweren Augen des Alten blieben ungerührt. Gabriels Antwort aber war sehr leise, so daß er sie wohl gar nicht verstand:

      »Wer dort ist, wo ich bin, der kann nicht wieder von vorne anfangen.«

      Der Agha machte aus seinen belebten Händen eine Schale, als wollte er den Regen der Zeit auffangen:

      »Warum denkst du an die Zukunft? Denk an die nächsten Stunden!«

      Abschiednehmendes Nachmittagslicht durchströmte das Zelt. Gabriel Bagradian stand unhöflicherweise auf:

      »Ich bin es gewesen, der den sieben Gemeinden die Idee eingegeben hat, auf den Musa Dagh zu gehn. Ich habe den ganzen Widerstand organisiert. Ich war der Führer in den Kämpfen gegen euer Militär, die es möglich gemacht haben, daß wir noch hier sind. Ich bin und werde der Verantwortliche, der Schuldige sein, wenn in ein paar Tagen die Euren alles Lebendige in diesem Lager, ja selbst die Kranken und Säuglinge zu Tode foltern werden. Was meinst du, Agha? Kann ich mich da einfach davonmachen?«

      Agha Rifaat Bereket sagte darauf nichts mehr.

      Gabriel Bagradian ließ die Geschenke des Agha unverzüglich auf den Altarplatz bringen, damit der Führerrat die Verteilung vornehme. In der Hauptsache handelte es sich um Zucker, Kaffee und ein wenig Tabak. Doch es war den Treibern