Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835543
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für andre leben! Ganz versunken sein in den eignen gepflegten Körper, von seinen Reizen bei allem Mißtrauen selbstbeseligt, als ob es keine Männer gäbe ...

      Trotz ihres schweifenden Geistes aber konnte Juliette so manches Gegenwärtige sehr scharf beobachten. (Auch in ihrer tiefsten Bewußtlosigkeit noch hatte sie niemals ihre körperliche Scham und Reinlichkeit verloren.) Jetzt, sah sie genau, daß Mairik Antaram sich mit der größten Sorgfalt um ihre Genesung bemühte. Sie hörte, wie die Frau des Arztes sich mit Iskuhi über die Speisen besprach, die für sie zubereitet werden sollten. Bei aller Abgestumpftheit ihrer Gedanken wunderte sie sich doch darüber, daß die suchenden Hände aus der Proviantkiste immer noch eine Tafel Schokolade, eine Handvoll Grieß, eine Dose mit Quaker-Oats hervorzogen. Diese Sachen mußten doch schon längst verbraucht sein. Sie versuchte zu zählen, wer davon mitlebte: Stephan. Ja, und um Stephans willen muß man äußerst sparsam sein. Dann Gabriel, Awakian, Iskuhi, die Tomasians, Kristaphor, Missak, Howsannahs Kind und ... Der Name fiel ihr nicht ein. Sofort verwirrte sich ihr Hirn und drehte sich sausend im Kopf. Auch zählen konnte sie nicht, und mit dem Zeitbegriff war es sehr schlecht bestellt. Was vorher und nachher hieß, was kurz vorbei und längst schon geschehen war, das geriet durcheinander.

      Wenn in diesen Tagen der Wiederkehr Juliette das meiste nur undeutlich wahrnahm, wenn ihr auch unendlich viel entfallen war, so enthüllten sich ihr Verborgenheiten mit doppelter Schärfe. Sie lag allein. Mairik Antaram hatte sie für zwei Stunden verlassen müssen, um in den Lazarettschuppen zu gehen. Da trat Iskuhi ins Zelt und setzte sich dem Bett gegenüber auf ihren gewohnten Platz, den kranken Arm, wie es ihre Art war, mit einem Umhangtuch verhüllend. Juliette wußte durch ihre dünngewordenen Augenlider hindurch, daß Iskuhi an ihrem Schlaf nicht zweifelte und sich deshalb in Mienen und Gedanken gehenließ. Sie wußte aber noch mehr. Gabriel hatte eben das Mädchen verlassen, und darum war es in das Zelt gekommen, das wußte sie. Und Iskuhi würde so lange hier bleiben, bis Gabriel wieder zurückkehrte. Auch erkannte Juliette, daß Iskuhis Gesicht, obgleich er nur ein schwankender Schein war, ihr bittere Vorwürfe machte. Bittere Vorwürfe, weil sie nicht die gute Gelegenheit benützt hatte, zu sterben. Und dieses gehässige, dieses häßliche hübsche Ding hatte eigentlich recht. Denn wie lange noch würde Juliette der Aufenthalt im verantwortungslosen Zwischenreich erlaubt bleiben? Wie lange noch würde sie schweigen und schlafen dürfen, wenn Gabriel in der Nähe war? Juliette fühlte die Vorwürfe, den Tadel, die Feindschaft, die von Iskuhi ausgingen, wie scharfe Strahlen auf ihrem Gesicht. Hier saß nicht nur irgendeine Feindin und starrte sie mit stillen Todesflüchen an. Hier saß die Feindin, die große Fremdheit selbst, das Unüberwindlich-Armenische, dem sie zum Opfer gefallen war. Und Juliette hatte immer geglaubt, sie sei das Harte, und das Asiatische das Weiche. Das Harte aber war vom Weichen aufgelöst worden. Während sie zu schlafen schien, überfielen sie schneidende Erkenntnisse. Wie war das? Nicht sie, Juliette, hatte den ersten Anspruch auf Gabriel. Iskuhi besaß den älteren Anspruch, und niemand konnte es ihr verwehren, wenn sie ihr Gut zurücknahm. Ein großes Mitleid mit sich selbst erschütterte Juliette. Hatte sie nicht für diese Asiatin alles getan, um ihre Liebe zu gewinnen, sie, die tausendmal höher stand? Hatte sie dieses ahnungslose Frauenzimmer nicht angezogen, sie mit ihren eigenen Dingen aufs beste geschmückt, sie gelehrt, wie man sein Gesicht und die Hände pflegt? (Ah, und wenn sie nackt ist, hat die Person trotz ihrer reizenden kleinen Brüste eine graubraune Haut, da hilft ihr kein Gott. Und der rechte Arm ist verkrüppelt. Kann das einem so heiklen Mann wie Gabriel gefallen?) Juliette staunte darüber, daß diese Urgegnerin ihr, seitdem sie sich überhaupt des Lebens entsinnen konnte, die Tasse oder den Löffel mit der Nahrung zum Munde geführt hatte, fürsorglich, trotz ihres Gebrechens. Sie hätte doch auch Gift in den Löffel tun können, ja sie hätte das müssen, es wäre ihre Pflicht gewesen. Juliette blinzelte zwischen den geschlossenen Lidern nach der Feindin hinüber. Und wirklich! Iskuhi war aufgestanden, hatte, wie sie das immer zu tun pflegte, die Thermosflasche unter ihre linke Achsel geklemmt und schraubte den Trinkbecher los. Dann stellte sie diesen auf das Spiegeltischchen, schenkte ihn vorsichtig voll und näherte sich damit der Kranken. Also doch! Es war kein leerer Verdacht gewesen. Die Mörderin kam mit dem Gift. Juliette preßte die Augen und Lippen zusammen. Es war ihr, als wage die Mörderin während der Tat mit ihrer gläsernen Stimme noch leise zu singen oder mindestens zu summen. Wie das Surren von Moskitos klang das, die sich auf Juliettens Gesicht niederließen. Sie lauschte mit angespanntem Gehör. Iskuhi neigte sich über sie:

      »Du hast schon seit fünf Stunden nichts getrunken, Juliette. Der Tee ist noch schön warm.«

      Die Kranke schlug lauernde Augen auf. Iskuhi merkte nichts. Sie hatte den Becher wieder hingestellt und noch ein Kissen zur Stützung unter Juliettens Kopf geschoben. Dann erst hielt sie ihr den Trank an die Lippen. Juliette wartete, damit die Erzfeindin nicht Verdacht fasse, und tat so, als wollte sie wirklich trinken. Plötzlich schlug sie mit wohlberechneter Tücke Iskuhi den Becher aus der Hand. Der Tee ergoß sich über die Decken. Juliette aber hatte sich aufgesetzt und keuchte:

      »Geh! Geh du! Geh doch ...«

      Viel Schlimmeres noch mußte sie erleiden, als gegen Abend Gabriel an ihr Bett kam. Jetzt galt es, eilig zu fliehn, rasch wieder ins Labyrinth zurückzutauchen. Die dunkeln Gänge waren aber auf einmal verschüttet, und das Zwischenreich bestand nur aus einem lächerlich engen Raum. Gabriel nahm forschend ihre Hand wie immer. Ein klar bewußtes Herzklopfen: Wird er reden? Werde ich heute schon alles erfahren und wissen müssen? Darf ich mich nicht mehr verstecken? Sie versuchte lang und gleichmäßig zu atmen. Doch zugleich spürte sie, daß in dieser Stunde ihr Schlafwandel nicht mehr ganz rein und gerecht war, sondern durch Willen getrübt. Auch Gabriel redete kein Wort zu ihr. Nach einer Weile zündete er die Kerzen auf dem kleinen Spiegeltisch an – Petroleum brannte man nicht mehr – und ging. Juliette atmete auf. Doch nach zwei Minuten kehrte Bagradian noch einmal kurz zurück, um Stephans große Photographie auf Juliettens Bett zu legen, jenes vorjährige Bild, das sonst immer auf seinem Schreibtisch gestanden hatte, in Paris und auch in Yoghonoluk.

      Das ist ja gar nicht Stephans Bild, sagte sich Juliette, das ist irgend etwas andres, ein Brief vielleicht und ich soll ihn lesen, wenn ich wieder gesund bin. Jetzt aber darf ich mich nicht länger dem Leben aussetzen. Das tut mir schlecht. Ich habe ja wirklich noch das Recht, zu verschwinden. Sie verkroch sich und zog mit ihren eiskalten Händen die Decke bis an den Mund. Dabei fiel der Karton zur Erde, mit dem Bilde nach oben. Die Photographie sah deutlich zu Juliette empor, deren Kopf sich aus dem Bett neigte. Das vom Spiegel verstärkte Kerzenlicht glänzte mitten auf der Bildfläche. Nun war es geschehen. Nun gab es kein Zurück mehr für sie. Doch Stephans Besuch erfolgte nicht aus der Photographie heraus. Die Wesenheit des Jungen stand hinter dem Kopfende des Bettes. Es war, als käme er atemlos von der Knabenkohorte der Haik-Bande, vom Ordonnanzdienst oder irgendeinem Spiel hergelaufen, um schnell und sehr widerwillig seine Milch hinunterzustürzen:

      »Du suchst mich, Mama?«

      »Heute noch nicht, Stephan«, flehte Juliette, »komm heute noch nicht! Ich bin zu schwach. Komm erst morgen! Laß mich noch heute krank sein! Geh lieber zu Papa ...«

      »Bei Papa bin ich immer ...«

      »Ich weiß ja, daß du mich nicht liebhast, Stephan ...«

      »Und du, Mama ...?«

      »Wenn du ein guter Junge bist, habe ich dich lieb. Du mußt wieder deinen blauen Anzug tragen. Denn sonst bist du ein Armenier ...«

      Mit diesen Worten war Stephan höchst unzufrieden. Er schien durchaus keine Lust zu haben, zu seiner alten Tracht zurückzukehren. Sein Schweigen bewies, daß er trotzte. Juliette aber flehte immer stürmischer: »Nur heute nicht, Stephan! Komm morgen früh! Laß mich noch diese Nacht ...«

      »Morgen früh ...?«

      Das war kein Versprechen, sondern eine leere Frage, ungeduldig, zerstreut, auf dem Sprung, den Kopf schon wieder den Kameraden zugewandt. – Als Juliette aber ihr Flehen bereits erfüllt fühlte, da fuhr sie aus dem Bett. Die Stimme schoß heiser in ihre Kehle zurück: »Stephan ... hierbleiben ... nicht fortlaufen ... hierbleiben ... Stephan ...«

      Mairik Antaram war auf dem Wege zum Dreizeltplatz, um für die Nachtruhe der Kranken zu sorgen. Schuschik hatte sich ihr angeschlossen. Denn seitdem sie wußte, daß Haik lebte, war sie von einem scheuen