Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835543
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nur damit Leben für die Türken aufgespart werde. Der Arzt und der Priester gingen durch die Reihen der beiden Lazarettplätze. Altouni mußte über jeden Kranken das Lebens- oder Todesurteil aussprechen. Nur in den offensichtlich hoffnungslosen Fällen entschied er sich sofort. Hier konnte man das Leiden um einen oder zwei Tage abkürzen. Fand er aber auf irgendeiner Miene, in irgendeinem Pulsschlag noch eine Spur von Zukunft, so begann er für den Kranken zu kämpfen, besonders wenn es sich um jüngere Menschen handelte. Der Priester schien weniger mitleidig zu sein als der Arzt. Für ihn besaß der Mensch dieses Leben und das ewige. Dieses war, solange man lebte, nicht unwichtiger als jenes. Wer es aber auf natürlichem Wege verlor, verlor nicht viel, ja mußte sich noch seligpreisen, daß er nicht durch den höllischen Schreck der Ermordung an seiner ewigen Seele Schaden nahm. So dachte der Priester in der Tiefe seines Herzens. – Der Arzt glaubte nur an dieses Leben und nicht an jenes. Wer dieses Leben verlor, der verlor, seiner Meinung nach, nicht nur nicht viel, sondern nichts. Dieses Nichts aber war umgekehrt auch alles. Niemand hatte etwas anderes zu verlieren als dieses All-Nichts. Es kam nur darauf an, wie er es selbst einschätzte. Bedros Hekim aber wußte nicht, wie zum Beispiel diese junge Frau hier zu seinen Füßen, die ihn mit glänzenden, gleichsam überfüllten Augen anstarrte, ihr eigenes Leben einschätzte. Vielleicht konnte sie, auch wenn sie nicht genas, noch einmal fünf Minuten lang irgendein irdisches Glück genießen. Darum zögerte er, der Lebensverächter. Für Ter Haigasun aber bedeutete das Fünf-Minuten-Glück dieser Frau gar nichts gegenüber einem reinen Eintritt in die Ewigkeit. Sprach der Arzt kein klares Ja oder Nein, so ging der Priester ruhig weiter. Einer von seinen Diakonen aber, der den beiden Männern folgte, steckte links neben dem Kopf des Kranken ein kleines Stöckchen in die Erde. Das war ein Zeichen für die Wärter, sie sollten, wenn der Sterbende keinen Wunsch mehr äußerte, ihm auch nichts mehr aufdrängen. Manchmal kehrte Altouni verstohlen zurück und zog das Stöckchen aus der Erde. Wie merkwürdig! Der Priester rechnete fest mit dem Untergang und glaubte dennoch an ein Wunder. Der Arzt glaubte fest an den Untergang und rechnete trotzdem mit einem tollen Zufall, der den Tod abwenden werde. So ähnlich diese Regungen auch schienen, sie waren voneinander sehr verschieden. Sowohl Ter Haigasun als auch Bedros Hekim schwiegen darüber.

      Kework aber, der Tänzer, bekam viel Arbeit.

      Zu unerwarteter Zeit kehrten die Schwimmer aus Alexandrette zurück.

      Am frühen Morgen tauchten die beiden jungen Leute bei der Nordstellung auf. Sie waren glücklich durch die weitgezogenen Patrouillenketten der Saptiehs und Soldaten geschlüpft, die alle Höhenzüge des Musa Dagh seit zwei Tagen umspannt hielten, von Kebussije bis zum Küstendorf Arsus im Norden hin. Der körperliche Zustand der Schwimmer widersprach der Dauer und den Strapazen ihres zehntägigen Abenteuers. Sie waren zwar mager wie Gerippe, aber wie sehnig federnde Gerippe, sonnen- und salzluftfarben. Am sonderbarsten erwies sich ihre Tracht. Der eine trug einen angeschabten, ehemals eleganten Herrenschlafrock aus brauner Wolle, der andre eine weiße Flanellhose und dazu das Wrack eines Smokings aus der mythischen Urzeit dieser Kleidungsart. Beide schleppten je einen schweren Sack mit hartem Militärzwieback auf dem Rücken, das Zeichen eines heroischen Volksdienstes, wenn man an die fünfunddreißig englischen Meilen Gebirgsstrecke zwischen Damlajik und Alexandrette denkt.

      Erfüllte die Heimkehr der Schwimmer die schnell zusammenströmenden Menschen mit Jubel, so war der Bericht der Boten danach angetan, den allerletzten Hoffnungsschimmer erlöschen zu lassen. Sechs Tage lang hatten sie sich in Alexandrette aufgehalten, ohne daß sich im Außenhafen auch nur die Spur eines Kriegsschiffes gezeigt hätte. An der Reede lagen eine Menge alter türkischer Schepperkasten, Kohlenschuten, Fischerschaluppen und ein vom Krieg überraschter russischer Handelsdampfer. Die riesige Bucht aber, die den rechten Winkel zwischen Kleinasien und Asien bildet, lag leer, so leer wie die Küste im Rücken des Musa Dagh. Seit vielen Monaten hatte niemand in Alexandrette, nicht einmal in der undeutlichsten Ferne auch nur die Ahnung eines Kriegsschiffes zu Gesicht bekommen.

      Verständlicherweise waren die Jünglinge viel weniger von der Vergeblichkeit als von dem bunten Eifer ihres Unternehmens und der überstandenen Gefahr erfüllt. Sie erzählten im ungeordneten Durcheinander. Eifersüchtig nahm einer dem andern das Wort vom Munde. Sehr ausführlich schilderten sie Tag um Tag ihrer Expedition. Wenn einer eine Kleinigkeit vergaß, wurde der andre ungeduldig. Die Menge aber, ihrer eigenen Lage vergessend, konnte von all diesen Einzelheiten nicht genug bekommen. Manches deutete darauf hin, daß die Schwimmer während ihres langen Ausbleibens auch eine Zeit stattlichen Wohlergehens erlebt haben mußten, wie es auf dem Damlajik nicht mehr vorstellbar war.

      Am ersten Tag nach ihrer Nachtwanderung hatten sie, immer auf der Gebirgshöhe, das Ras el Chansir abgeschnitten und waren unbehelligt auf die Küstenstraße gelangt, die von Arsus in die Hafenstadt führt. Einen ganzen Tag verbrachten sie dann auf einem Hügel in der nächsten Umgebung von Alexandrette, wo sie hinter der sicheren Deckung von dichtem Myrtengebüsch unablässig den äußeren Hafen belauerten. In der vierten Nachmittagsstunde etwa zeigte sich etwas schmales Graues, das aus weiter Ferne her in einer scharfen Kielschaumlinie der Küste zustrebte. Jede Vorsicht vergessend, flogen sie in weiten Sprüngen zur Küste hinab, stürzten sich ins Wasser und schwammen, an der hölzernen Landungsbrücke vorbei, in den offenen Hafen hinaus. Sie näherten sich, wie es ihr Auftrag erheischte, dem vermeintlichen englischen oder französischen Torpedoboot, das vor ihren Blicken rasch aufwuchs, in großem Bogen, erkannten aber sehr bald zu ihrem Entsetzen die Halbmondflagge am Heck. Doch auch an Bord hatte man die Schwimmer gesichtet. Schallende Zurufe! Als keine Antwort kam, wurden ihnen von der Besatzung der Inspektionsbarkasse des türkischen Hafenkommandanten, als welche sich ihr Irrtum entpuppte, ein Dutzend Gewehrschüsse nachgepfeffert. Sie tauchten und schwammen eine meisterhaft lange Strecke unter Wasser. Später verbargen sie sich zwischen den zyklopischen Felsen, auf denen die Landungsbrücke errichtet ist. Glücklicherweise war es schon Abend und der Hafen ausgestorben, dennoch konnten sie auf den morschen Planken der Brücke hoch über sich den schallenden Patrouillenschritt des Wachtpostens vernehmen. Da saßen sie nun, vollkommen nackt und naß. Ihre Kleider, ihr Proviant waren dahin. Zum Überfluß begann jetzt noch ein nahes Blinkfeuer jede halbe Minute einmal über ihre Leiber scharf hinzutasten. Sie verkrochen sich, so gut sie konnten. In tiefer Nacht erst wagten sie es, mit Vermeidung der langen Hafenstraße, ans Land zu gehn. Es blieb ihnen keine andre Wahl, als entweder feige auf den Hügeln zu verschmachten, oder sich mutig in die Stadt zu wagen. Es ergab sich vorerst ein Mittelweg. Auf einer parkartigen Anhöhe, die gepflegten Schutz vor der Malaria bot, lagen mehrere große Herrschaftsvillen. Die Schwimmer waren, nach allem, was sie über Alexandrette gehört hatten, überzeugt davon, daß mindestens eine dieser Villen armenischer Besitz sein müsse. Gleich an dem ersten Gartentor gab ihnen das Namensschild, das sie im Mondschein entzifferten, recht. Das Haus aber war verschlossen, ohne Licht, die Laden vernagelt, tot. Die Boten ließen sich nicht abschrecken. Sie waren bereit, einzubrechen, um einen Unterschlupf zu finden. An der Gartenmauer lehnten ein Grabscheit und eine Hacke. Nun begannen sie mit verzweifelten Schlägen auf das Tor loszuarbeiten, ohne zu bedenken, daß ihr Gedonner auch den Todfeind wecken konnte. Doch schon nach wenigen Sekunden rasselte innen das Schloß. Es wurde geöffnet. Ein zitterndes Licht und ein zitternder Mann: »Wer?« – »Armenier! Gebt uns zu essen und versteckt uns, Jesus Christus!« – »Ich kann niemanden verstecken. Sie inspizieren täglich, von oben bis unten, die Saptiehs. Unsere Aufenthaltsbewilligung gilt immer nur für eine Woche. Und jede Woche kostet hundert Pfund. Wenn sie euch bei uns finden, so werden wir auch verschickt.« – »Wir kommen aus dem Meer. Wir sind nackt.« Der Lichtpunkt der Taschenlampe zitterte über die frierenden Körper: »Barmherziger Gott! Herein kann ich euch nicht lassen. Es wäre unser aller Verderben. Aber wartet hier!« Die Minuten zogen sich endlos. Dann wurden den Schwimmern durch den Torspalt zwei Hemden und zwei Decken gereicht. Auch Brot und kaltes Fleisch bekamen sie in großer Menge und dazu jeder noch zwei Pfund. Der schlotternde Volksgenosse aber flüsterte: »Im Namen des Erlösers, bleibt hier länger nicht stehn! Schon hat man euch vielleicht bemerkt. Geht zum deutschen Vizekonsul! Er ist der einzige, der euch helfen kann. Herr Hoffmann heißt er. Ich schicke eine alte Frau mit euch, eine Türkin. Folgt ihr! Aber nicht zu nahe! Und redet nicht!«

      Das Haus des Herrn Hoffmann lag glücklicherweise in demselben Parkviertel. Der deutsche Vizekonsul erwies sich als ein sehr gütiger Mann, der für die Armenier seines Amtsbereiches mehr zu tun bestrebt war, als er durfte und als in seinen Kräften