»Ich wende mich unmittelbar an Eure Exzellenz, weil ich die Großmut Eurer Exzellenz kenne ... Eure Exzellenz werden mein Anliegen schon erraten haben ...«
Der vierschrötige Dschemal mit seiner schiefen Schulter stellte sich dicht vor den Kaimakam hin, dessen schwere, schlaffe Gestalt ihn hoch überragte. Die dicken Asiatenlippen des Generals durchstießen gehässig den schwarzen Bartrahmen:
»Es ist eine Schande«, zischte er, »eine ekelhafte Schande!«
Der Kaimakam neigte mit betonter Zerknirschung das Haupt:
»Ich wage es, Eurer Exzellenz völlig beizustimmen. Es ist eine Schande! Ich aber habe das Unglück und nicht die Schuld, daß diese Schande gerade meine Kasah trifft.«
»Keine Schuld? Ihr Zivilisten habt allein die Schuld, wenn wir wegen all dieser infamen Armeniergeschichten den Krieg verlieren und vielleicht ganz zugrunde gehn!«
Den Kaimakam schien diese Prophezeiung tief zu erschüttern:
»Es ist ein Unglück, daß nicht Eure Exzellenz die Politik in Stambul leiten!«
»Es ist ein Unglück, darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich aber bin schließlich nur ein Beamter und habe die Befehle der Regierung gehorsamst entgegenzunehmen.«
»Entgegenzunehmen? Auszuführen, mein Lieber, auszuführen! Wie viele Wochen dauert dieser Skandal schon? Mit einem Haufen zerlumpter, verhungerter Bettler könnt ihr nicht fertig werden ... Die Erfolge des Herrn Kriegsministers, haha, und des Herrn Innenministers!«
Der kleine Dschemal trat zu dem Riesen Osman und schlug ihm mit der flachen Hand auf die Brust, daß dieses Waffenmuseum erklirrte:
»Meine Leute erledigen so etwas in einer halben Stunde ... was?«
Osman grinste. Doch auch der Kaimakam lächelte süßsauer:
»Eure Exzellenz haben mit dem Zug an den Suezkanal eine der größten Kriegstaten unserer Geschichte vollbracht ... Ich bitte um Verzeihung, daß ich mir als Zivilist ein Urteil anmaße ... Aber das Größte an diesem Feldzug sind die geringen Verluste, die er Eure Exzellenz gekostet hat.«
Dschemal Pascha lachte bitter auf:
»Richtig, Kaimakam! Ich bin nicht so splendid wie Enver.«
Jetzt machte der Kaimakam seine geschickteste Wendung:
»Die Aufständischen der sieben Dörfer sind ausgezeichnet bewaffnet. Sie haben sich auf dem unzugänglichen Damlajik verschanzt. Ich bin kein Offizier, Exzellenz, und verstehe nichts davon. Die Saptiehs und die Assistenztruppen aber haben alles getan, was zu machen ist. Ich, als Leiter und Augenzeuge der Operationen, muß jede Verunglimpfung dieser Offiziere und Mannschaften energisch zurückweisen. Ich lehne es aber auch ab, unter den gegebenen Umständen, auch nur ein einziges Menschenleben mehr zu opfern. Eure Exzellenz, als unser größter Feldherr, wissen es viel besser als ich, daß man eine Bergfestung ohne Gebirgsartillerie und Maschinengewehre nicht säubern kann. Mögen die Verfluchten triumphieren! Ich habe das Meine getan!«
Dschemal Pascha, der seiner auffahrenden Natur in unaufhörlicher Zucht Selbstbeherrschung abtrotzen mußte, konnte seine Stimme nicht bezwingen:
»Wenden Sie sich an den Kriegsminister«, schrie er. »Ich habe keine Gebirgsartillerie und keine Maschinengewehre. Meine ganze Macht ist eine Redensart. Ich bin der armseligste Heerführer des Reiches. Die Herren in Stambul haben mich bis auf die letzte Patrone ausgeplündert ... Und, überhaupt, das Ganze geht mich nichts an.«
Der Kaimakam wurde sehr ernst und kreuzte die Arme über seine Brust wie zum Selam:
»Eure Exzellenz verzeihen, wenn ich zu widersprechen wage. Aber die Sache geht Eure Exzellenz doch ein wenig an ... Nicht nur die politische Behörde macht sich durch diesen Mißerfolg vor der ganzen Welt lächerlich, sondern auch die Truppen der Vierten Armee, die den berühmten Namen Eurer Exzellenz trägt.«
»Wofür halten Sie mich«, höhnte Dschemal, »so billig ködert man mich nicht.«
An dem gewaltigen Osman vorbei verließ der Kaimakam das Zimmer des Paschas, dem Anschein nach sehr betreten, im Innern aber nicht hoffnungslos. Die Hoffnung täuschte ihn nicht. Derselbe Osman weckte ihn nach Mitternacht in seinem Quartier und lud ihn unverzüglich zu Dschemal ein. Durch solche überraschende Einladungen zu unmöglicher Stunde liebte es der Diktator Syriens, sich selbst seine Macht und andern seine Originalität zu beweisen. Er empfing den späten Besuch nicht in Uniform, sondern in einem phantastischen Burnus, der seiner durchaus nicht einwandfreien Gestalt das Ansehen eines prachtvollen Beduinenscheichs gab:
»Kaimakam, ich habe die Sache ganz durchgedacht und bin zu Entschlüssen gelangt ...«
Er schlug mit seiner roten Plebejerhand flach auf den Tisch:
»Das Reich ist das Opfer von Irrsinnigen und von unfähigen Strebern ...«
Der Kaimakam wartete mit bestätigender Schwermut des Kommenden. Osman stand in voller Parade an der Tür. Wann schläft dieser Kerl eigentlich, überlegte der Regent von Antiochia. Dschemal Pascha ging auf und ab:
»Sie haben recht, Kaimakam, die Schande trifft auch mich. Sie muß verschwinden, sie darf nie gewesen sein, verstanden?«
Der Kaimakam wartete noch immer wortlos. Der kleine General drehte sein haßverzehrtes Bartgesicht zu ihm empor:
»Zehn Tage haben Sie Zeit, dann muß diese Geschichte vorbei und vergessen sein ... Ich werde Ihnen einen meiner tüchtigsten Herren schicken und alles Nötige ... Sie aber haften mir ... Ich will nichts mehr hören ...«
Der Kaimakam war klug genug, keinen Laut von sich zu geben. Dschemal Pascha trat zwei Schritte zurück. Jetzt sah er wirklich bucklig aus:
»Ich will nichts mehr hören von der ganzen Sache ... Wenn, ich aber etwas hören muß, wenn es nicht ganz glatt geht, lasse ich alle Schuldigen füsilieren ... und auch Sie, Kaimakam, werden zum Teufel gehen ...«
Der sommersprossige Müdir, der in der Villa Bagradian residierte, wurde an diesem Tag zweimal aus seinem Kefschlummer gerissen. Das erstemal war's eine Depesche des Kaimakams, die ihn von dessen bevorstehender Ankunft in Kenntnis setzte. Als aber der Feldwebel der Saptiehs von neuem erschien, um ihn wegen eines bedenklichen Ereignisses aus der kühlen Villa in die unerträgliche Mittagshitze zu holen, da fluchte er auf den lästigen Kerl wild los und hätte ihn am liebsten geschlagen. Auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk jedoch beschleunigte er seinen Schritt, denn der Anblick war wirklich recht ungewöhnlich. Vor der Kirche stand eine nicht mit Pferden, sondern mit Eseln bespannte Yayli. Eigentlich aber war's gar keine Yayli, sondern irgendeine altertümliche Karosse mit großen Rädern. In dieser Karosse saß ein alter Herr, der seinem Wesen und seinen Kleidern nach vorzüglich hineinpaßte. Ein dunkelblauer Seidenmantel reichte ihm bis zu den Füßen, die in weichen Ziegenlederschuhen staken. Um den Fez trug der Vornehme das Tarbuschtuch des Frommen geschlungen. Die zarten, fast altfrauenhaften Finger zählten unablässig die Kugeln eines Bernsteinkranzes ab. Der Müdir erkannte in dieser Erscheinung sofort einen patrizischen Alttürken, einen Parteigänger des gegnerischen Lagers, das trotz der Revolution seine Macht nicht völlig eingebüßt hatte. Jetzt erinnerte er sich, dieser Persönlichkeit in Antakje zwei- oder dreimal begegnet zu sein, wo sie von der Bevölkerung ehrfürchtig gegrüßt worden war. Die Yayli stand nicht allein da. Hinter ihr stampfte und scharrte ein Troß hochbepackter Esel. Außer den Treibern sah der Müdir noch zwei ältere Türken mit einem milden, fast verklärten Ausdruck und einen mageren Menschen, der am Wagenschlag lehnte und dessen Gesicht dicht verschleiert war. Der junge Mann aus Salonik legte die Hand an die Stirn, um das Alter höflich zu grüßen. Agha Rifaat Bereket winkte ihn herbei. Der traditionsfeindliche Anhänger Ittihads trat sachte an den Wagen heran und nahm Worte