»Wir haben Vater und Mutter oben ... und auch unsre Mädchen ... Das könnten wir nicht aushalten ... Wenn dort das Unglück geschieht und wir sind hier ... am Leben ... und in diesem schönen Haus ...«
Am zweiten Tag des neuen Monats ließ Vizekonsul Hoffmann die Schwimmer ziehen, nachdem alle Bekehrungsversuche fehlgeschlagen waren. Da er durch sie von der Brotentbehrung auf dem Damlajik wußte, erwarb er auf einem nicht ganz rechtmäßigen Umweg von der kaiserlich ottomanischen Militärintendantur zwei Säcke mit Dauerzwieback, die er den Heimkehrern mitgab. Seine schönste Tat aber war es, daß er die Konsular-Yayli anspannen ließ. Die Schwimmer mußten sich links und rechts von ihm in den Wagenfond setzen. Neben dem Kutscher in seiner hohen Pelzmütze prangte der uniformierte Khawaß und schwenkte langsam, aber unablässig eine kleine deutsche Reichsfahne. Stolz fuhren sie an dem Saptiehposten vorbei, der die Zufahrten der Hafenstadt scharf überwachte. Die Gendarmen nahmen stramm Stellung und salutierten ehrfürchtig dem Vertreter des Deutschen Reiches, der Fahne und ihren zweifelhaften Schützlingen. Herr Hoffmann brachte sie auch noch an dem zweiten Posten bei Arsus vorbei. Dort stiegen die Schwimmer aus und nahmen, ihre Tränen nicht verbergend, von ihrem warmherzigen Gönner Abschied.
Dieser Bericht währte länger als eine Stunde, durch Zwischenrufe, Seitenfragen, Abschweifungen und das Einander-ins-Wort-Fallen der Erzähler gedehnt. Es war für alle eine höchst wohltuende Stunde, obgleich der eigentliche Inhalt und Zweck des Berichtes hätte niederschmetternd wirken müssen. Der Botengang war vergeblich gewesen. Die Hoffnung auf Entsatz vom Meere her hatte sich als tollhäuslerische Phantasieausgeburt entlarvt. Und doch zitterte ein sanfter Lichtblick über den Menschen, die sich um die Helden in einem weiten dichten Kreis gelagert hatten. Die Schwimmer saßen auf der Erde, und die Ihrigen waren, um ihren Anspruch kenntlich zu machen, ganz nahe an sie gerückt. Die Väter hörten mit sachgemäßer Miene zu, die zum Ausdruck brachte: Recht gut! Ungefähr so und vielleicht noch ein wenig klüger hätten wir uns auch verhalten. Die Mütter blickten mit fanatischem Stolz um sich. Die beiden Geliebten oder Bräute aber, die sich nun wider allen Brauch offen zur Familie bekannten, tasteten die seltsame Tracht der Burschen ab und überboten einander in einem verlegen krampfhaften Geflüster, in dem verräterische Laute mitschwangen. Dies alles aber war flach gegen Schuschiks Ausbruch. Jemand hatte sie aus ihrer Hütte geholt. Sie hörte, daß Haik in Sicherheit sei. Zuerst schien sie es gar nicht aufzufassen. Stumpf vornübergebeugt sah sie zur Erde. Seit Stephans Tod hatte sie ihren Blick kaum mehr gehoben. Sie war noch knochiger geworden. Ihre harten Männerfäuste aber hingen schlaff herab. Sie holte sich nur mehr sehr unregelmäßig ihr Essen von den Austeilungstischen. Wenn jemand sie ansprach, wandte sich Schuschik noch gröber, noch gehässiger ab als früher. Jetzt aber fing ihr ungeschlachter Rücken ein Geflüster auf:
»Schuschik! Hör doch! Haik lebt ... Haik lebt ...«
Es dauerte lange, ehe das Geflüster in sie eindrang, ehe sich ihr Wesen damit vollsog und der ungeschlachte Rücken allmählich weiblich sanft wurde. Sie sah von einem zum andern, vorerst geduckt noch, dann aber flehend, man solle nicht grausam sein. Da aber tat einer der Schwimmer ein übriges, indem er nach Art erfolgreicher Abenteuerkünder dem Glück nachhalf und ein bißchen aufschnitt:
»Rößler und Jackson sind täglich beisammen. Der Deutsche hat es mir selbst gesagt, daß er Haik gesehen hat und daß es dem Jungen ausgezeichnet geht ...«
Da durchdrang die Gewißheit auch den fernsten Punkt von Schuschiks Sein. Zwei lange, stöhnende Atemzüge. Sie stolperte mehrere Schritte vor. Und diese Schritte führten mitten aus einer fünfzehnjährigen Einsamkeit in den leeren Kreis, der sich um die Schwimmer und ihre Familien gebildet hatte. Noch ein Stolperschritt, dann lag sie da, stützte sich sogleich wieder auf, kniete, diese mächtige Gestalt. In ihrem farb- und alterslosen Gesicht ging etwas Staunendes auf, die Sonne einer jähen unaussprechlichen Menschenliebe. Diese Abweisende, diese lebelang Verkrochene hob ihre plumpen Arme schwach und sehnsüchtig gegen die Wiedervereinten. Die plumpen Arme Schuschiks aber baten: Nehmt mich auf! Laßt mich teilnehmen! Denn nun gehöre ich zu euch ...
Noch wurde sie nicht aus dem Schatten gestoßen. Noch lag der Eingang fern, eine rundliche winzige Lichtscheibe, wie das Ende eines Tunnels. Noch durfte sie in der großen Schwäche zu Hause sein; in dem guten Labyrinth, das nicht mehr brannte und dampfte, sondern dumpfig kühl sie umlagerte. Sie sah meist nur bewegte Flächen. Wenn sie sich anstrengte, vermochte sie diese Flächen zu entziffern. Doch sie war ja viel zu klug, um sich anzustrengen. Alle Worte und Schälle schlugen hohl an ihr Ohr wie in einem Raum mit dicken Polsterwänden. Und da stand sie wirklich in der Telefonzelle am unteren Ende der Champs-Élysées und rief Gabriel im armenischen Klub an, denn man gab im Trocadéro eine neue Komödie, die sie sehn wollte. Wenn sich aber das kühle unbestimmte Leben so ausgesprochen verdichtete, wurde sie sofort nervös und floh. Der einzige ihrer Sinne, dem sie sich mit Wonne hingab, war nicht nur in Ordnung, sondern überentwickelt, grandios gesteigert: der Geruch. Sie roch ganze Welten in sich hinein. Welten, die zu nichts verpflichteten. Violette Kleefelder, Vorfrühling in kleinen nordischen Hausgärten, wo farbige Glaskugeln die Straße spiegeln. Nur um Gottes willen keine Rosen! Der Geruch, aus Sonnenstaub, Mittagslärm, Autobenzin, kaltem Weihrauch und Keller tausendfältig gemengt, wenn man die kleine Seitenpforte im Brettergerüst öffnet, die in die Kathedrale führt. Wieder einmal beichten und die Kommunion empfangen! Selten genug geschieht's ja, und nun ist es doch höchste Zeit, falls überhaupt noch geholfen werden kann. Aber der gewisse Name fällt ihr nicht ein. Ist es denn notwendig, etwas zu beichten, das nicht wirklich geschehen ist und wahrscheinlich nur zur Krankheit gehört? Doch nun beginnt schon wieder dieser fürchterliche Geruch der Myrtenbüsche. Nur das nicht, Jesus Maria! Die Myrten werden durch ein starkes Gegenmittel beschworen: Haare waschen. Sie sitzt bei Fauchardière, rue Madame 12, in der engen feuchtwarmen Kabine, weiß verhüllt, weit zurückgelehnt im Frisierstuhl. Kein Wohlgeruch, nur der herbe ländliche Duft der Kamille. (Bäuerinnen, die sonntags zur Messe gehn.) Juliettens Kopf schwebt in einer Wolke von Kamillenschaum. Dann sind die Haare ganz glatt, ganz schütter, ganz strähnig wie bei einem spitzknochigen Schulmädchen. Aber schon streift der warme Fön über das minderjährige Blond und plustert es fraulich auf. Empfindsame Finger beginnen zu arbeiten. Eine weiße Kühle legt sich über Stirn, Wangen und Kinn. Man wird schon bald vierunddreißig