Naturgemäß werden socialistische Regungen am nachhaltigsten und stärksten hervortreten, wenn einerseits ein hoher Begriff von der rechtlichen Gleichheit aller Menschen in den Gemüthern lebt, während in den gesellschaftlichen Zuständen schroff die thatsächliche Ungleichheit hervortritt. Mit einer Schärfe, wie nie zuvor, trafen beide Momente in der großen Revolution von 1789 zusammen, und seitdem wurde der Socialismus eine Weltmacht. Die politischen Gedanken der Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, einen echten und wahren Kern tragend unter einer dichten Hülle von phrasenhaftem Wust, erweckten in den Massen überschwängliche Hoffnungen, während ihre socialen Gedanken, die freie Entfesselung der wirthschaftlichen Kräfte, die Befreiung der Arbeit und des Besitzes von allen mittelalterlichen Fesseln, vielfach ein Massenelend hervorriefen. Nicht zwar, als ob diese Gedanken nicht einen ungeheuren Fortschritt in der menschheitlichen Entwickelung darstellten, aber die uralte, weltgeschichtliche Erfahrung, daß der Eintritt in neue Culturepochen regelmäßig mit endlosen Wirren eines langen Uebergangsstadiums erkauft werden muß, bewährte sich auch diesmal, und zwar in um so höherem Grade, je gewaltiger der eingetretene Umschwung war.
Nichts thörichter, als die eherne Nothwendigkeit von 1789 zu verkennen um der Gräuel von 1793 willen. Es wäre dasselbe, wie wenn man die deutsche Reformation wegen der Wiedertäuferwirthschaft in Münster verleugnen wollte. Unsere conservativen Parteien stehen ebenso ganz und voll auf dem Boden der großen Revolution, wie die liberale, ja in gewissem Sinne hat sie jenen größere Segnungen gebracht, als diese. Sie schuf den freien Bauernstand, eine ebenso conservative wie gesunde Schicht der heutigen Gesellschaft, während sie aus industriellem Gebiete zwar eine ungeheure Entwickelung hervorrief, aber zugleich auflösend und zersetzend wirkte. Erst von nun ab vermochte sich die große Industrie, welche seit dem beginnenden Welthandel im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts langsam entstanden war, frei zu entwickeln; sie überschüttete das menschliche Geschlecht mit unendlichen Schätzen, aber sie gestaltete auch härter, schroffer, verletzender denn je zuvor den Gegensatz in den Eigenthumsverhältnissen, indem sie den Stand der besitzlosen Lohnarbeiter hervorrief. Er wuchs empor aus hörigen Leuten, aus Gesellen und Lehrlingen, zu einem nicht unerhebliche Theile auch aus kleinen Besitzern und Handwerkern, die in dem wirtschaftlichen Wettkampfe mit der großen Industrie unterlagen. Er entbehrte allen Zwanges, aber auch aller Wohlthaten der mittelalterlichen Rechtsordnungen. Ihn fest und sicher einzufügen in die organische Gestaltung des modernen Culturstaats, ist der innerste Kern der socialen Frage, welche das neunzehnte Jahrhundert zu lösen hat, auf dem Wege allmählicher und schrittweiser Bahnen, in Zeiträumen, welche sich heute noch nicht absehen lassen, denn in solcher Weltwende zähle Jahrzehnte kaum wie Tage.
Kein ehrlicher Geschichtsforscher kann und wird die entsetzlichen Uebelstände leugnen, welche die Entwickelung der großen Industrie häufig über breite Schichten des Arbeiterstandes gebracht hat. Sie traten am ersten und heftigsten in den Ländern auf, in denen jene Entwickelung sich am schnellsten und umfassendsten vollzog, in Frankreich und in England. Und naturgemäß wurden diese Länder die Geburtsstätte des modernen Socialismus. Er ähnelte früheren Bewegungen gleicher Tendenz zunächst darin, daß er in phantastische Einbildungen schwelgte und daß er in zwiespältiger Form auftrat: edle Geister und schwärmerische Menschenfreunde erbarmte sich des große Elends, und in den leidenden Masse regte sich wilde Gedanken des Umsturzes. Aber er unterschied sich mehr und mehr grundtief von seinen Vorläufern dadurch, daß er die utopische Form abzustreifen, mit allem Rüstzeug der modernen Wissenschaft eine neue Welt zu erbauen suchte, und daß er die Bewegung der Geister und der Massen zu einheitlicher Wirksamkeit verschmolz. Dieser Umwandelungs- und Verjüngungsproceß erweckte ihm neue und nie geahnte Kräfte.
Der erste namhafte Socialist unseres Jahrhunderts war einem der älteste Adelsgeschlechte entsprossen. Henri de Saint-Simon warf 1819 die Frage auf, ob es für Frankreich nachtheiliger sein würde, wenn das Land plötzlich die ganze königliche Familie, den ganzen Hofstaat, den ganzen höheren Clerus, die ganze höhere Beamtenwelt, kurzum seine dreitausend hochgestellten Personen, oder aber seine dreitausend größten Gelehrten und Arbeiter verlieren würde. Er entschied sich dafür, daß der letztgedachte Verlust unendlich schwerer wiegen würde, da zwar jene, aber nicht diese Stellen sehr leicht auszufüllen wären, und er folgerte, daß der Arbeit nicht die letzte, sondern die erste Stelle in der Gesellschaft gebühre. In dem bizarren Vergleiche, der an sich mehr scherz- als ernsthaft genommen werden muß, lag ein bewußter Zweifel an der Gerechtigkeit der bestehenden Eigentumsordnung, der sich nach und nach klarer entwickelte. An dieser Stelle würde es natürlich zu weit führen, alle socialistischen Schulen in Frankreich auch nur in den schattenhaftesten Strichen zu zeichnen; in dieser bunten und mannigfaltigen Gesellschaft bewegten sich phantastische Schwärmer, wieCabet und Fourier, zuchtlose Poeten, wie Sue, kritisch-zersetzende Naturen, wie Proudhon, durch und neben einander. Es kann sich nur darum handeln, zu zeigen, wie die dunkle Vorstellung Saint Simon’s, der niemals die bestehende Einrichtung angegriffen oder einen Versuch zu praktischer Agitation gemacht, oder auch nur ein Mittel zur Verwirklichung seiner Schlußfolgerung angegeben hat, eine politische Macht wurde.
Seine Schüler, namentlich Bazard, thaten eine großen Schritt über ihn hinaus, indem sie als die eigentliche Quelle der ungerechten Gütervertheilung das Erbrecht der Blutsverwandtschaft bezeichneten und demgemäß ein Erbrecht des Verdienstes forderten, das will sagen, den Heimfall der Hinterlassenschaften an den Staat, dessen Rechtsschutz überhaupt erst ein Eigenthum ermögliche, wie er es auch erwerben und erhalten helfe. Damit hatte der socialistische Gedanke politische Form angenommen; die Staatsgewalt wurde als Retterin und Richterin in den socialen Wirren ausgerufen. Allein noch fehlte die praktische Handhabe; die Saint-Simonisten erörterten ihr sociales Heilmittel rein philosophisch, und indem ihre gemäßigte Mitglieder sich auf die Forderung progressiver Erbschaftssteuern und die Aufhebung des Erbrechts nur in den entfernteren Verwandtschaftsgraden beschränkte, verließen sie sogar den streng socialistischen Boden, denn eine Reform des Erbrechts in dem angedeuteten Sinne kann sehr wohl auch von Vertretern der bürgerlichen Oekonomie erwogen werden.
Erst Louis Blanc fand jene praktische Handhabe, welche den modernen Socialismus zu einer treibenden Kraft der Weltpolitik machte. Anknüpfend an den Gedanken, daß die Staatsgewalt allein die sociale Ungleichheit beseitigen könne, forderte er 1839 in seiner berühmten Schrift über die „Organisation der Arbeit“, daß der Staat die besitzlosen Arbeiter mit den Mitteln ausrüsten müsse, um den wirthschaftlichen Wettkampf mit den besitzenden Classen zu bestehen, und hieraus ergab sich von selbst, daß behufs dieses Zwecks die Arbeiter sich in den Besitz der Staatsgewalt setzen müßten. Damit war die erste Berührung zwischen der geistigen und materiellen Bewegung des Socialismus in einem politischen Agitationsprogramm vollzogen, oder mit anderen Worten: die moderne Socialdemokratie war geschaffen.
Noch nicht zehn Jahre später stürzten die Arbeiter von Paris den Thron Louis Philipp’s; in der provisorischen Regierung der Republik saßen unter einer Mehrheit von bürgerlichen Republikanern die Socialisten Louis Blanc, Flocon und Albert, ein Arbeiter. Die schamlose Classenherrschaft einer entarteten Bourgeoisie, die entsetzliche Corruption des Bürgerkönigthums hatten der socialdemokratischen Bewegung in Frankreich eine furchtbare Kraft gegeben. Aber als nun die Arbeiter ihren Lohn von der Regierung forderten, zeigte sich schon bei der Probe die vollkommene Unfähigkeit des Socialismus, neue Organismen des gesellschaftlichen und staatliche Lebens zu schaffen. Louis Blanc setzte zwar durch, daß die provisorische Regierung in einem amtlichen Erlasse den Arbeitern ihren Unterhalt durch die Arbeit verbürgte; auch richtete er ein Arbeiterparlament im Luxembourg ein, in welchem viel kostbare Zeit verschwatzt und vertrödelt wurde, allein tatsächlich hat er nichts geleistet. Allerdings hatte er hartnäckig mit der Mehrheit der Regierung zu kämpfen; die berüchtigte Nationalwerkstätten waren nicht sein Werk, waren nicht die in seinen Schriften geforderten socialen Ateliers, sondern sie wurden, gerade um ihn zu discreditiren, von jener Mehrheit in einer Weise errichtet, welche sie binnen kurzer Frist bankerott werden lassen mußte. Das gräßliche Ende von alledem ist bekannt; im Juni erhoben sich die enttäuschten Arbeiter; zum ersten Mal wehte die rothe Fahne von den Barricaden. Eine dreitägige Straßenschlacht voll unnennbarer Gräuel bedeckte das Pflaster mit 10,000 Leichen; in diesem Blutstrome erlosch