Während dieser humane Communismus die reifsten und tüchtigsten Elemente unter den Arbeitern denken und mittelbar den richtigen Weg erkennen lehrte, tobte in den untersten Schichten die socialdemokratische Agitation. In diesem politisch geschulten Volke ließ ein schwerer Druck von selbst das Verlangen nach Vertretung im Parlamente entstehen. Als die Reformacte von 1832 zwar den Mittel-, aber nicht den Arbeiterclassen das Wahlrecht gab, bildete sich einige Jahre später in London ein Arbeiterverein, um den Arbeitern Vertretung im Parlamente zu verschaffen behufs einer neuen Ordnung der Gesellschaft in ihrem Interesse. Ans diesem Vereine ging die Volkscharte hervor, deren sechs berühmte Forderungen waren: Stimmrecht wie Wählbarkeit aller erwachsenen Männer, geheime Abstimmung, jährliche Parlamente, Diäten der Abgeordneten und gleichmäßige Wahlbezirke. Die Apostel des Vereins, welche die Arbeiterbezirke bereisten und in kürzester Frist eine ungeheure Zahl von Anhängern warben, ließen keinen Zweifel über den socialen Hintergrund dieses anscheinend rein politischen Programms. „Der Chartismus,“ predigten sie, „ist keine politische Frage, bei welcher es sich darum handelt, daß Ihr das Wahlrecht erlangt; der Chartismus ist eine Messer- und Gabelfrage, die Charte heißt gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit.“
Im Laufe eines Jahrzehnts schwoll diese chartistische Bewegung zu außerordentlicher Macht und nicht minder außerordentlicher Gefährlichkeit an. Während anfangs über die Mittel, wie das allgemeine Stimmrecht zu erlangen sei, die Meinungen getheilt waren, eine Partei der moralischen Macht und eine Partei der physischen Gewalt sich gegenüber standen, siegte wie üblich die radicale über die gemäßigte Richtung. In Volksversammlungen, welche hundert-, selbst zweimalhunderttausend Menschen zählten, wurde in der wüthendsten Sprache zu Eroberung der Charte mittelst der Waffen aufgefordert. Es kam zu blutigen Aufständen, auch zum Versuch einer allgemeinen Arbeitseinstellung. Die besitzenden Classen wurden zuletzt von der größten Besorgniß erfaßt, aber, sehr ungleich der französischen Bourgeoisie, die in allen socialen Wirren eine nachgerade sprüchwörtliche Feigheit bewährt hat, traten sie selbst für ihr Recht ein und übten sich im Gebrauche der Waffen, um eine planmäßige Empörung niederwerfen zu können. Man glaubte diese Erhebung vor der Thür, als Feargus O’ Connor, der namhafteste Führer der Chartisten, am 10. April 1848 erklärte, an der Spitze von 150,000 Mann in’s Unterhaus einziehen zu wollen, um eine angeblich von nahe an sechs Millionen Personen unterschriebene Petition um die Charte in die Volksvertretung zu tragen. Die umfassendsten Vertheidigungsmaßregeln wurden getroffen, nicht weniger als 150,000 Bürger ließen sich freiwillig als Specialconstabler einschwören, allein nur 30,000 Arbeiter folgten dem Rufe O’Connor’s, und unter solches Umständen verzichtete er auf den Zug.
Diese moralisch-politische Niederlage brach die innere Kraft des Chartismus, aber erloschen ist er nicht eher, als bis derselbe tapfere Rechtssinn, welchen das englische Bürgerthum sich als unerschütterlichen Damm den heranstürmenden Wogen des Aufruhrs entgegen stemmen ließ, auch den gerechten Beschwerden der Arbeiter abhalf. Die Schaffung einer humanen Fabrik- und Werkstätten-Gesetzgebung, die Förderung der Gewerkvereine mit ihrem System der Einigungskammern und Schiedsgerichte, die Parlamentsreform von 1867, welche den industriellen Arbeitern das Stimmrecht gab, haben den arbeitenden Classen die Möglichkeit und namentlich auch die Ueberzeugung gegeben, daß sie eine nachhaltige Hebung ihrer Lage auch auf dem Boden der heutige Gesellschaftsordnung erreichen können. So bietet England das merkwürdige und trostreiche Schauspiel, daß das classische Land der großen Industrie und der schroff gestalteten Eigenthumsverhältnisse zugleich der unfruchtbarste Boden für die socialdemokratischen Bestrebungen ist.
Weit hinter England und Frankreich war in dem dritten maßgebenden Culturstaate der modernen Welt, war in Deutschland die politische und wirtschaftliche Entwickelung zurückgeblieben. Während die Bewegung von 1848 in jenen Ländern schon einen mehr oder minder ausgesprochen socialen Charakter trug, richtete sie sich in Deutschland wesentlich noch gegen die letzte Reste des mittelalterlichen Feudalismus. Nur in dem Rheinlande regten sich schon, begünstigt durch die hohe Entwickelung der dortigen Industrie und die französische Nachbarschaft, socialdemokratische Tendenzen, die namentlich in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ zu Köln vertreten wurden. In diesem Blatte wirkteEngels und Marx, zwei hervorragende Gelehrte; mehr in den Hintergrund trat der junge, aber nicht minder bedeutende Lassalle, der damals tief in den unsaubern Prozeß Hatzfeldt verwickelt war. Aber um wie viel die deutsche hinter der englischen und französischen Arbeiterbewegung zurückblieb, um so viel zeigten sich die deutschen Socialdemokraten ihren englischen und französischen Gesinnungsgenossen überlegen. Engels und Marx waren zugleich Führer eines internationalen „Bundes der Communisten“; als solche erließen sie kurz vor der Februarrevolution ein communistisches Manifest, in welchem die europäische Socialdemokratie des neunzehnten Jahrhunderts ihre typische Form und Gestalt gewann. Denn indem die Verfasser dieses Schriftstückes die besitzlosen Massen aufriefen nicht zur Bekämpfung einzelner, verwerflicher Einrichtungen der heutiger Zustände, sondern zum schonungslosen Vernichtungskriege gegen alle die politischen und religiösen ebenso wie die wirtschaftliche Grundlagen der modernen Gesellschaft, indem sie ferner erklärten, daß dieser Krieg nur durch Gewalt und nur durch das internationale Zusammenwirken der arbeitenden Classen aller Länder siegreich zu führen sei, und indem sie endlich als Siegespreis das Gemeineigenthum an Grund und Boden und allen Arbeitswerkzeugen hinstellten, zeigten sie sich gleichermaßen als die consequentesten und wissenschaftlich klarsten Köpfe, wie als die gefährlichsten und rücksichtslosesten Demagogen, welche die communistisch-socialistische Bewegung hervorgebracht hat. Bis auf den letzten Schatten und die letzte Spur hatte der socialistische Gedanke die phantastischen und utopistischen Nebelhüllen, die sentimentale Maske der schwärmerischen Menschenliebe abgestreift; entschlossen, fertig, klar, in der einen Hand die Brandfackel des Aufruhrs und in der andern den blanken Stahl der Wissenschaft, stellte er sich dem gesitteten Völkerleben zum Kampfe auf Leben und Tod gegenüber.
Seit Erlaß des communistischen Manifestes konnte kein Zweifel mehr herrschen, daß die Leitung der internationalen Socialdemokratie in diese deutschen Hände gefallen war. Nur der völlige Niedergang aller socialistischen Bestrebungen, der bald nach seiner Veröffentlichung erfolgte, mochte die Thatsache verbergen. Aber als im Beginn der sechsziger Jahre das Wiedererwachen der Geister nach dem Todesschlafe der Reactionsepoche und die schwere Krisis des amerikanischen Secessionskrieges eine mächtige Bewegung durch die europäische Arbeiterwelt