Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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von den großen Fragen des historischen Kulturfortschritts als die unerläßliche Voraussetzung der »reinen Kunst« gefeiert, wenn die platte Nachahmung der Natur, die noch jeder schöpferische Künstler verschmäht hat, als weltumwälzendes Kunstprinzip verkündet, wenn die modernen Proletarier der ästhetischen Roheit geziehen werden, weil sie in der Kunst nicht Schmutz und Staub, sondern nach einem treffenden Worte »festlichen Kerzenglanz« sehen wollen, gemäß der natürlichen, das heißt historisch gegebenen Stimmung einer Klasse, die ihres Sieges sicher und ihrer Zukunft froh ist.

      Nun wird ja freilich dem modernen Naturalismus ein sozialistischer Zug nachgerühmt, allein was an dieser Behauptung wahr ist, bestätigt eben auch nur seine innere Verwandtschaft mit der Romantik. Den ideologischen Literaturhistorikern hat es schon manches Kopfzerbrechen verursacht, daß die Romantiker mittelalterlich-reaktionär und doch bis zu einem Grade modern-freisinnig waren; vom historisch-materialistischen Standpunkt ergibt es sich sozusagen von selbst, daß eine feudal-romantische Dichterschule in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts nicht ohne einen tüchtigen Zuschuß bürgerlicher Kultur bestehen konnte. Das war schon deshalb eine unbedingte Notwendigkeit, weil die feudale Welt unter dem Angriffe des Bürgertums sich gegen den überlegenen Feind mit den Waffen verteidigen mußte, die sie von ihm entlehnte; ungefähr so, wie sich die Rothäute mit Feuergewehren gegen die Weißen wehrten, was ihr hoffnungsloses Absterben verzögerte, aber nicht aufhielt. Man braucht das Verhältnis zwischen der feudalen Romantik und dem bürgerlichen Emanzipationskampf nur auf die heutigen Zustände zu übertragen, um sofort zu erkennen, was es mit dem sozialistischen Zuge des modernen Naturalismus auf sich hat. Die bürgerlichen Naturalisten sind sozialistisch gesinnt, wie die feudalen Romantiker bürgerlich gesinnt waren, nicht mehr und nicht weniger; hei ihren zahllosen Experimenten halten sie sich mit heiliger Scheu jeder künstlerischen Darstellung fern, die sich auch nur von weitem mit dem proletarischen Emanzipationskampf berühren könnte. Lieber versteigen sie sich in alle mystischen und symbolischen Nebel.

      Was von den Dichtern des modernen Naturalismus gilt, das gilt auch von seinen Ästhetikern und Kritikern. Weder großer Fleiß noch auch mancherlei Verdienst läßt sich der Schule Scherers absprechen. Sie hat viel in ästhetisch-philologischer Kleinarbeit geleistet und versteht sich trefflich auf die kritische Analyse von Dichtwerken, soweit es sich um ästhetisch-philologische Gesichtspunkte handelt. Sie hat in siegreicher und gewiß auch dankenswerter Weise wenigstens den intelligenteren Schichten der deutschen Bourgeoisie beizubringen verstanden, daß Anzengruber, Ibsen, Hauptmann Poeten von ganz anderem Wurfe sind als Blumenthal oder Lindau. Insofern haben ihre Arbeiten die bürgerliche Ästhetik und Kritik ungemein erfrischt, die ebenso verkommen war wie die bürgerliche Poesie. Aber ihr Verständnis schwindet, wie mit dem Messer abgeschnitten, wo sich die literarische mit der ökonomischen und politischen, mit der allgemeinen historischen Entwicklung berührt: Will sie Literaturgeschichte schreiben, so fehlt ihrer Darstellung die historische Perspektive und ihren Gestalten das historische Relief. Sie verfällt dann in ein leeres Phrasenwesen, das durch einen peinlichen Stich ins Loyal-Untertänige nichts weniger als verschönert wird.

      Die Auffassung, die ich hier in wenigen Sätzen zusammenfasse, hat sich mir im Laufe der Jahre gebildet, und ich habe sie, wie ich schon sagte, in der »Neuen Zeit« nach den verschiedensten Seiten hin ausgeführt. Besonders darf ich auf die Ästhetischen Streifzüge verweisen, die ich im Siebzehnten Jahrgang, Erster Band, der »Neuen Zeit« veröffentlicht habe. Zu den ersten Werken aber, an denen sie sich entwickelte, gehörte die Biographie Lessings von Erich Schmidt, deren letzter Band im Jahre 1891 erschien, wo ich das ganze Werk zum ersten Male las. Ich war hier auf einem mir völlig bekannten Boden, gegenüber einem Stoffe, den ich seit Jahren und Jahrzehnten nicht nur erworben, sondern in gewissem Sinne erlebt hatte. So begann ich mit einer Kritik dieses Buches, die sich mir dann unterderhand, da es sich um Fragen handelte, die oft und oft Gegenstände meines Nachdenkens gewesen waren, weit über den Rahmen einer bloßen Rezension ausdehnte, mit der ich anfangs in drei oder vier Nummern der »Neuen Zeit« fertig zu werden hoffte. Und im Niederschreiben der Arbeit tauchten dann immer neue Gesichtspunkte auf, neue oder je nachdem auch alte Gesichtspunkte, das will sagen Gesichtspunkte, über die ich für mich längst ins reine gekommen war, aber von denen ich glaubte annehmen zu dürfen, daß ihre Klärung für manchen Leser von Interesse sein würde. In der Tat fand die Arbeit von Anfang an lebhaften Beifall; ich wurde von keiner Seite gedrängt, sie abzubrechen, von vielen Seiten aber, sie fortzusetzen. So wurden aus den drei oder vier Aufsätzen etwa zwanzig, und dabei war noch manches unter den Tisch gefallen, was ich einmal in diesem Zusammenhange zu sagen für nötig und nützlich hielt. Das schaltete ich dann noch ein, als aus dem Leserkreise der »Neuen Zeit« das Verlangen nach einer Buchausgabe der Aufsätze laut wurde und Freund Dietz diesem Verlangen in einer starken Auflage nachkam.

      So ist dies Buch als eine Improvisation entstanden. Nicht im Sinne einer eilig für Augenblickszwecke zusammengerafften Darstellung; soweit diese Beschuldigung erhoben worden ist, freilich mehr durch heimlichen Literatenklatsch als durch die öffentliche Kritik, die mir zumeist, auch wo sie meiner Methode und meinen Resultaten ablehnend gegenüberstand, die Beherrschung eines umfassenden Stoffes zugestanden hat, darf ich sie mit gutem Gewissen zurückweisen. Was ich in dieser Schrift entwickle, hat die Horazische Quarantäne der neun Jahre dreimal oder noch länger überstanden. Aber sie besitzt in hohem Grade die formellen Mängel einer Improvisation; sie ist eben nicht als Buch entworfen, nicht nach einem systematischen Plane ausgearbeitet worden; sie ist, um ein Lessingisches Wort anzuwenden, ein wenig »Mischmasch«, und ich bin nicht unbescheiden genug, auf das Wort eines bürgerlichen Kritikers zu pochen, der von meiner Arbeit sagte, sie gerate zwar vom Hundertsten ins Tausendste, aber sie habe auch im Hundertsten und im Tausendsten noch etwas zu sagen.

      Die neue Auflage, die sich nunmehr notwendig gemacht hat, bot mir die Möglichkeit, die Mängel der Form zu beseitigen. Aber als ich daraufhin das Buch nach mehr als zehn Jahren wieder durchnahm, kam ich sofort zur Einsicht, daß der etwas wild gewachsene Baum entweder so bleiben müsse, wie er ist, oder daß ich einen ganz neuen Baum pflanzen müsse. Mit der Schere ließe er sich nur zu einem kahlen Stumpfe zurechtstutzen, denn das, was auch wohlwollenden Kritikern, die an die herkömmliche Art der Literaturgeschichtschreibung gewöhnt waren, als das »Hundertste und Tausendste« erschien, ist in meinen Augen und nach der historischen Methode, die ich für richtig halte, gerade die Hauptsache. Systematischer ließe es sich freilich entwickeln, aber dann müßte ich das Buch von A bis Z umschreiben, auf die Gefahr hin, es viel umfangreicher, aber deshalb keineswegs inhaltreicher zu machen. Dazu könnte ich mich nur entschließen, wenn ich meine Ausführungen sachlich zu revidieren hätte, allein nach abermaliger sorgfältiger Prüfung des Textes habe ich sachlich nichts daran zu ändern, und um der bloßen Form willen mag ich ein Buch nicht zerstören, das gerade auch in dieser Form nicht nur für mich ein Stück Leben darstellt, sondern auch, wie ich aus zahlreichen Zeugnissen weiß, vielen Lesern lebendig und lieb geworden ist.

      Deshalb lasse ich den Text selbst ganz unverändert und beschränke mich darauf, in dieser Vorrede das wenige zu sagen, was ich zu dem gegenwärtigen Stande der Fragen zu sagen habe, die ich in dem Buche behandle.

      Zunächst ein kurzes Wort über die öffentliche Kritik, die das Buch erfahren hat. In charakteristischer Weise tritt dabei hervor, was ich oben über die Schule Scherers gesagt habe.

      Die »Historische Zeitschrift«, die von Sybel begründet worden ist und unter ihm die friderizianische Legende in erster Reihe gepflegt hat, leitete ihre Anzeige meiner Schrift zwar mit den landesüblichen Scherzen über »sozialdemokratische Wissenschaft« ein – anders als mit einer Spekulation auf die blöden Vorurteile des Philisters bekämpfen die gelehrten Männer der Bourgeoisie nun einmal nicht den historischen Materialismus –, aber sie erkannte dann an, daß meine Schilderung des friderizianischen Staates in allem Tatsächlichen auf gründlichem Studium der besten Hilfsmittel beruhe und auch von den bürgerlichen Historikern mit Nutzen gelesen werden könne. Sie schloß ihre Besprechung mit den Worten: »Unseren entgegengesetzten Standpunkt sowohl bezüglich der Methode wie der Auffassung wollen wir hier nicht begründen; wir wollen vielmehr darauf hinweisen, daß es falsch wäre, dergleichen Bücher einfach zu ignorieren, und daß die historische Wissenschaft aus der unbefangenen Würdigung einer so grundsätzlich verschiedenen Anschauung vom Staate und von den Mächten des geschichtlichen Lebens keinen geringeren Vorteil ziehen wird,