Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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Januar bis Juni vorigen Jahres im Feuilleton der »Neuen Zeit« veröffentlicht habe, sind für diese neue Ausgabe sorgfältig durchgesehen, in vielen Einzelheiten ergänzt und vervollständigt, in manchen Abschnitten, so im sechsten, siebenten, neunten Kapitel des ersten, dann auch in den drei letzten Kapiteln des zweiten Teils beträchtlich vermehrt worden. Alle diese Erweiterungen bezwecken, die grundsätzliche Scheidung zwischen dem aufgeklärten Despotismus und der klassischen Literatur im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts noch schärfer durchzuführen, den eigentlichen Nebelkern der Lessing-Legende, namentlich soweit er die Probleme der deutschen Gegenwart verschleiert, noch gründlicher aufzurollen, als in den Blättern einer wissenschaftlichen Wochenschrift aus technischen Gründen möglich war.

      Diesem Zwecke soll besonders auch die ausführlichere Schilderung des friderizianischen Staats dienen. Denn je klarer sich dieser Staat als das geschichtliche Erzeugnis eines Klassenkampfes zwischen ostelbischem Fürsten- und Junkertum herausstellt, um so schärfer tritt unsere klassische Literatur als der Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums hervor. Sollte ich trotzdem in den betreffenden Abschnitten ausführlicher geworden sein, als sich mit meiner eigentlichen Aufgabe vertrug, so werde ich mich damit trösten, daß heutzutage die friderizianische Legende niemals ganz am unrechten Orte beleuchtet werden kann.

      Der Anhang über den historischen Materialismus verdankt seinen Ursprung mancherlei Fragen und Zweifeln, die in freundlichen Zuschriften aus dem Leserkreise der »Neuen Zeit« an mich gelangten. Kundige werden die kleine Arbeit nachsichtig beurteilen; ich habe sie jedenfalls mit lebhafter Freude an der Sache geschrieben. In der Kritik der Lessing-Legende war mir nur selten einmal eine Gelegenheit gegeben, die Schriften von Marx und Engels anzuziehen; gleichwohl, wenn ich diesen oder jenen neuen Gesichtspunkt für das Verständnis der deutschen Geschichte eröffnet haben sollte, so beschränkt sich mein Verdienst auf die rückhaltlose Anwendung der materialistischen Forschungsmethode, die Marx und Engels in so einleuchtender, so klarer, so unwiderleglicher und deshalb so epochemachender Weise entwickelt haben. Es konnte mir nicht anders als sehr willkommen sein, in einer sachlichen Erörterung des historischen Materialismus zugleich eine Schuld persönlichen Dankes abzutragen.

      Berlin, im Juni 1893

       F. M.

      Vorrede zur zweiten Auflage

      Vor vierzehn Jahren, vom Januar bis Juni 1892, veröffentlichte ich im Feuilleton der »Neuen Zeit« eine Reihe von Aufsätzen über Lessing. Seit meiner frühen Jugend zählte er zu meinen Lieblingsschriftstellern, doch gehörte es nie zu den Träumen meines Ehrgeizes, über ihn zu schreiben, so eifrig ich alles verfolgte, was über ihn geschrieben wurde.

      Ein kaum weniger tiefes Interesse fesselte mich von früher Jugend an den alten Fritz, obschon es weniger freier Wahl als dem Zwange der Umstände entsprang. Aufgewachsen in dem engen geistigen Bannkreise hinterpommerscher Kleinstädte, mußte ich mich allzulange von der lauteren Milch preußischer Vaterlandsliebe nähren, und noch in meinem Abiturientenaufsatz habe ich das famose Thema »Preußens Verdienste um Deutschland« so gläubig behandelt, daß ich die erste Note erhielt.

      Darüber vergingen die Jahre und die Jahrzehnte. Ich hatte meinen Lessing anders lesen lernen, wie ich ihn als Knabe las, und ich hatte auch meinen angestammten Friedrich anders schätzen lernen wie auf den Bänken der Schule. Immer aber dachte ich noch nicht daran, weder über den einen zu schreiben noch über den anderen. Ich war endlich als leitender Redakteur der »Berliner Volkszeitung« ganz in die Tagespolitik verschlagen worden, bis ich dann im Jahre 1890 aus dieser Stellung geworfen wurde, weil ich einen Akt sozialer Unterdrückung bekämpft hatte, den ein damaliger Literatursultan an einer wehrlosen Schauspielerin verübte.

      In diesen Kämpfen war ich auf Gegner gestoßen, in denen ich eher Bundesgenossen vermutet hätte, auf Anhänger des modernen Naturalismus, wie er sich damals nannte, auf Ästhetiker und Kritiker, die vom rein literarischen Standpunkt aus jenem Literatursultan aufsässig gewesen waren; auf Schüler Scherers, der ja gewissermaßen als wiedergeborener Lessing die falschen Götzen der Literatur entthront und neuen Göttern den Weg gebahnt haben sollte. Inzwischen hatte ich aus Marx gelernt, den Zusammenhang der Dinge tiefer als auf der Oberfläche zu suchen; ich schob deshalb nicht einer verwerflichen Kameraderie in die Schuhe, was am Ende mehr auf dem Gebiete des Intellekts als der Moral liegen konnte, und so benützte ich meine unfreiwillige Muße, diese Dinge eingehender zu studieren, als ich es vermocht hatte, solange ich das zur Zeit des Sozialistengesetzes schärfste Oppositionsblatt leitete.

      Über die Resultate, zu denen ich bei diesem Studium nach und nach gelangte, habe ich mich inzwischen oft genug an anderen Orten ausgelassen, namentlich in der »Neuen Zeit«. Ich kann sie hier natürlich nur mit wenigen Worten zusammenfassen. In den siebziger Jähren des vorigen Jahrhunderts schien der große Krach mit der ökonomischen auch die geistige Kraft der deutschen Bourgeoisie gebrochen zu haben; als ein Mann wie Lindau die Literatur der deutschen Reichshauptstadt beherrschte und auf den Berliner Bühnen nur noch der Geschundene Raubritter in den verschiedensten, aber immer gleich barbarisch-geschmacklosen Fassungen aufgeführt wurde, da schien der bürgerlichen Literatur ihr letztes Stündlein geschlagen zu haben. Jedoch eine große Weltperiode stirbt niemals so schnell ab, wie ihre Erben zu hoffen pflegen und vielleicht auch, um sie mit dem gehörigen Nachdruck berennen zu können, hoffen müssen; gerade die Heftigkeit des Angriffs rafft noch einmal alle Kräfte des Widerstands zusammen; als Schiller seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts schrieb, ahnte er auch nicht, daß der absolutistisch-feudale »Naturstaat«, dem er das Horoskop des nahen Untergangs stellte, eine fröhliche Urständ feiern würde. So auch geht es mit dem Kapitalismus nicht so reißend bergab, wie der trotzige Kampfesmut des Proletariats in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und noch lange nachher glaubte. Diese Tatsache ist an und für sich nicht zu bestreiten, so töricht es sein mag, aus ihr zu folgern, daß die langsamere Auflösung überhaupt keine Auflösung mehr sei.

      In den achtziger Jahren erholte sich die bürgerliche Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade ökonomisch und demgemäß auch geistig. Auf den verschiedensten Gebieten der wissenschaftlichen Literatur erwachte neues Leben; in der ökonomischen Literatur erschien eine Reihe von Schriften, die mit verhältnismäßig scharfem und tiefem Blick in das Gefüge der modernen Gesellschaft drangen; in der schönen Literatur erschien der Naturalismus. Sicherlich war er ein kräftiger Aufstieg aus dem Sumpfe; die Hauptmann und Holz waren aus ganz anderem Holze geschnitzt als die Lindau und Blumenthal; ebenso waren einst die Schlegel und Tieck von ganz anderem Schlage als die Kotzebue und Nicolai. Eine unaufhaltsam absterbende Gesellschaft sammelte ihre ganze Kraft, um sich am Leben zu erhalten, und es war gewiß die stärkste Kraft, die sie überhaupt noch aufzubieten hatte: eine ungleich stärkere Kraft, als sie im Taumel ihres noch unbedrohten Übermuts aufzubieten für nötig hielt, aber eine lange nicht mehr so starke Kraft, um noch abzuwenden, was nach den ehernen Gesetzen der Geschichte nicht mehr abgewandt werden kann. Hierin wurzelt die innere Verwandtschaft des modernen Naturalismus und der feudalen Romantik, die in dem Auflösungsprozeß der feudalen Gesellschaft eine ähnliche Stellung einnahm; hierin liegt der Grund, weshalb diese beiden Literaturperioden des historischen Verfalls bei aller äußeren Unähnlichkeit doch den gleichen Charakter aufweisen, der je länger je mehr sich auch in den Gesichtszügen abspiegelt, wie neben vielem anderen in letzter Zeit das Überwuchern der Märchendramen und sonst allerhand mystischen Zeuges gezeigt hat und zeigt.

      Vom Standpunkt dieser historischen Auffassung wird man wie den Stärken, so auch den Schwächen des modernen Naturalismus durchaus gerecht. Man versteht dann, weshalb er einen so unglaublich engen Gesichtskreis hatte oder hat – je nachdem man ihn noch als lebend betrachten will oder nicht –, denn seinem Schifflein fehlte Kompaß und Segel und Steuer, um das hohe Meer der Geschichte zu befahren. Man versteht dann, weshalb er sich an die sklavische Nachahmung der Natur klammerte, denn er mußte ratlos vor jedem gesellschaftlichen Problem stehen. Man mag dann auch seine Freude an den gräßlichen und häßlichen, niedrigen und widrigen Abfällen der kapitalistischen Gesellschaft als einen Protest anerkennen, den er in seinem dunklen Drange dem öden Geldprotzentum, dem Todfeinde jeder echten Kunst, ins Gesicht warf. Alles das kann man historisch vollkommen würdigen. Jedoch mußte und muß der Protest einsetzen, wenn die verkümmerten Lebensbedingungen, unter denen