Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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einer seiner Reden ausdrückte.

      Ach, ich darf mich gar nicht weiter darüber auslassen, wer weiß, welche argwöhnischen Augen diesen Brief lesen werden, bevor Du ihn in den Händen hältst. Vielleicht hast Du recht, vielleicht sollten wir diesem Land den Rücken kehren, solange es noch geht, aber dann denke ich an die vielen Elenden hier und bin plötzlich wieder voller Hoffnung, dass sich unsere Idee doch durchsetzen wird, weil sie richtig ist und gerecht.

      Aber genug von der Politik. Deine Worte über meine beiden Mütter haben mich sehr bewegt. Ich weiß, dass Du recht hast, aber es fällt mir so schwer zu begreifen, warum Tante Johanne mir nie die Wahrheit gesagt hat. Du sagst, es spielt keine Rolle, aber für mich ist es doch von Bedeutung. Wie oft stehe ich an ihrem Grab und beschwöre sie, mir zu antworten, aber sie ist nicht da, nicht an diesem toten Ort. Auch gestern war ich dort und habe sie nicht gefunden, aber in der Nacht habe ich von ihr geträumt.

      Es war ein so wirklicher Traum, dass ich ihn immer noch in mir spüre. Ich war in einem fremden Garten, und es war Nacht, aber ich erkannte die Umrisse von Bäumen und Büschen und konnte die Blumen um mich herum riechen. Mit einem Mal stand Johanne neben mir, und obwohl es dunkel war, sah ich sie klar und deutlich. Ist dies das Paradies?, fragte ich. Sie lächelte und bewegte die Lippen, doch es kam kein Laut heraus. Ich kann dich nicht hören, rief ich, ganz verzweifelt darüber, dass sie mir so nah war und ich sie nicht verstehen konnte, aber sie nickte nur und sprach lautlos weiter. Irgendwann breitete sie ihre Arme aus, hob die Hände, als wollte sie mich umarmen, doch stattdessen flog sie einfach davon. Im selben Moment ging die Sonne auf, und ich sah, wie sich ihre Gestalt in dem roten Leuchten am Himmel verlor, und dann hörte ich ihre Stimme: Mache dich auf. Werde licht, Magdalena.

      Alles schien mit einem Mal so einfach: diese schweren, düsteren Gedanken und meinen Groll endlich aufgeben. Und licht werden, hell und frei und leicht in meinem Tun und meinem Denken. Wahrscheinlich sind es nur meine eigenen Vorstellungen, die diesen Traum hervorgerufen haben, mein sehnsüchtiges Verlangen. Und doch stelle ich mir vor, dass Johanne tatsächlich und in Wirklichkeit zu mir gekommen ist, um mir die Botschaft zu überbringen.

      Gerade fällt mein Blick auf meine Tochter, die ihren Namen trägt. Meine kleine Johanna, die neben mir liegt und schläft. Unter ihren geschlossenen Lidern wandern die Pupillen hin und her, und dann und wann bewegen sich ihre Lippen. Wen sie wohl sieht in ihrem Schlaf?

      Ich umarme Dich und Catharine.

      Magdalena

Teil 1

      Johanne stützte ihr Gesicht in die Hände und hielt sich dabei die Ohren zu. Die Klänge der Kirchenglocken verstummten.

      Es war neun Uhr. Der Gottesdienst in der Kirche am Wall war vorbei. Der neue Pastor hatte heute seinen Antritt, und alle Mitglieder der kleinen evangelischen Gemeinde Kaiserswerth waren dort gewesen. Alle bis auf ihre Familie.

      Die Königs waren seit Monaten nicht mehr zur Kirche gegangen. Ihr Vater schlief am Sonntagmorgen den Rausch aus, den er sich in der Nacht zuvor angetrunken hatte, und ihre Mutter wurde schon wütend, wenn Johanne sie nur darauf ansprach. »Damit die anderen Gelegenheit haben, auf uns herabzusehen? Nein, Johanne, da habe ich Besseres zu tun, das erspare ich mir lieber.«

      Ohne die Eltern wollten die Brüder nicht in die Kirche, ohne die Brüder wollte auch Johanne nicht hin. Die schiefen Blicke, die verächtlichen Mienen, das Getuschel der Leute. Es war unerträglich.

      Stattdessen saßen sie hier am Frühstückstisch, die Brüder stritten sich um den letzten Rest Schmalz im Topf, die Mutter schlürfte ihre Grütze, und Johanne sah ihnen dabei zu, ohne sie zu hören.

      Bis zum letzten Moment hatte sie gehofft, dass sie ihre Mutter umstimmen könnte, dass sie doch noch mitkommen würde. Ein neuer Pastor, das bedeutete doch auch einen neuen Anfang, eine neue Chance. Verschwendete Zeit, vergeudete Worte.

      Frau König wischte sich den Mund ab, ihre Lippen bewegten sich. Johanne nahm die Hände von den Ohren. »… so eine trübsinnige Miene«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Du wirst den Pfarrer schon noch früh genug zu Gesicht bekommen.«

      »Er ist bestimmt genauso langweilig wie der alte«, meinte Heiner mit vollem Mund.

      Johanne senkte den Blick und starrte auf den dreckigen Tisch. Heiner hatte recht, es machte keinen Unterschied. Alles geht so weiter, wie es war, dachte sie. Sie schloss die Augen und sah plötzlich wieder Emmis grinsendes Gesicht vor sich und hörte Albertine kichern.

      Und wollte nicht daran denken, aber sie musste.

      Emmi und Albertine an der Pumpe am Stiftsplatz. Die beiden schwatzten und taten, als ob sie Johanne nicht bemerkten, vielleicht hatten sie sie ja auch wirklich nicht gesehen.

      »Guten Tag miteinander«, sagte Johanne, während sie ihre leeren Kannen hinter die von Albertine stellte.

      »Guten Tag«, gab Emmi zurück, ohne den Kopf zu wenden. Albertine nickte nur und murmelte etwas Unverständliches.

      Johannes Gesicht wurde heiß. Ihre Hände schwitzten. Die Gefühle waren ihr so vertraut und waren ihr so verhasst. Sie strich die Finger verstohlen an der Schürze ab, atmete kalte Luft ein und schluckte sie. Es schmerzte in der Kehle.

      Emmi wuchtete ihren zweiten randvollen Wassereimer unter der Pumpe weg.

      »Hast du’s gehört, die Evangelischen bekommen schon wieder einen neuen Pastor«, sagte sie zu Albertine, ohne Johanne anzusehen. »Ich muss schon sagen, die haben einen hohen Verschleiß an ihren Pfaffen.«

      »Mal sehen, wie lange der Neue es hier aushält. Ein paar Monate, dann wird auch er sich wieder auf die Socken machen. Seine Vorgänger hat es jedenfalls auch immer nach kurzer Zeit fortgetrieben.« Das war Albertine.

      Johanne zuckte mit den Schultern. »Die Gemeinde ist klein und arm. Ein Pastor hat es hier nicht leicht.«

      »Besonders wenn die Kirche am Sonntag halb leer bleibt, weil manche den Tag des Herrn lieber im Bett verbringen«, sagte Albertine.

      »Und die Nacht des Herrn im Wirtshaus«, ergänzte Emmi. Albertine ließ den Pumpenschwengel fallen und verbarg ihr Gesicht in ihrer Schürze, als ob sie über die Gottlosigkeit der Protestanten weinte, aber dann hörte Johanne sie prusten. Emmi trat näher zu Johanne. »Dein Bruder Laurenz«, flötete sie. »Was ist mit ihm? Man sieht und hört nichts mehr von ihm.«

      Heiß, Johannes Gesicht war so furchtbar heiß. Sie hätte so gerne etwas entgegnet, aber ihre Gedanken verdampften in der kalten Winterluft. Albertine gackerte immer noch in ihre Schürze. Ich sollte sie ins Gesicht schlagen, dachte Johanne. Damit sie aufhört. Aber ihre Hände hingen schlaff an den Armen.

      Heiner und Theodor stritten sich, diesmal ging es um die letzte Scheibe Brot, die jeder haben und keiner teilen wollte. Erst als Johanne eingriff und das Brot auseinanderbrach, hörten sie das Klopfen an der Tür.

      »Wer kommt denn am heiligen Sonntag in aller Herrgottsfrühe?« Frau König erhob sich, verärgert und nervös zugleich. »Wenn’s bloß nicht die Herderin ist wegen der Näharbeit, die ich ihr noch zu erledigen habe. Sie hat es wichtiger damit als alle anderen zusammen.« Während sie zur Tür ging, verschränkte sie die Arme vor der Brust, schob das Kinn nach vorn und bereitete sich vor. Auf die Auseinandersetzung, auf den Streit, der nun käme.

      »Als ob sie nicht wüsste, dass eine Frau nur zwei Hände hat und der Tag nicht mehr als vierundzwanzig Stunden«, schimpfte sie und riss die Tür auf. Verstummte und ließ die Arme nach unten gleiten.

      Die Kinder reckten neugierig die Hälse. Durch die geöffnete Tür fiel ein hellgrauer Lichtstreifen in die Wohnung. Aber vom Tisch aus war nicht zu erkennen, wer davor stand.

      »Einen gesegneten Sonntag wünsche ich, Frau König.« Eine Männerstimme, fest und laut.

      »Allmächtiger, da soll mich doch der ...«

      »Mein Name ist Fliedner. Ich bin Ihr neuer Pastor. Ich bin unterwegs, um die Mitglieder meiner Gemeinde zu begrüßen. Darf ich wohl eintreten?«

      Noch