Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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die Hände vors Gesicht. Ihre Schultern begannen zu zucken, ohne dass sie einen Laut von sich gab.

      »Johanne!« Catharine konnte sich nicht erinnern, wann sie Johanne das letzte Mal hatte weinen sehen.

      Ihre Schwester ließ die Hände sinken. Hob den Kopf und sah Catharine an, das Gesicht ruhig und gefasst. »Es ist einfach zu viel«, flüsterte sie. »Zu viele Pflichten, zu viele Aufgaben. Es ist nicht zu schaffen.«

      Catharine wusste sofort, dass Johanne nicht über ihre eigene Arbeit klagte. Es ging um Frau Fliedner. Die Pastorin stand wieder einmal kurz vor der Niederkunft. Aber sie schonte sich nicht, sie arbeitete von den frühen Morgenstunden bis tief in die Nacht. Seitdem das Pastorenehepaar vor neun Jahren ein Asyl für entlassene Strafgefangene eröffnet hatte, kannte sie keine Ruhe mehr. Vor sechs Jahren hatten sie das alte Stammhaus Petersen am Marktplatz erworben und in ein Krankenhaus umgewandelt, kurz darauf eröffneten sie ein Kleinkinderlehrerinnenseminar und seit zwei Wochen gab es auch noch ein Waisenhaus auf der Neuen Straße.

      Und es war nicht nur die Arbeit in Kaiserswerth, die sie aufrieb. Als Leiterin der ganzen Anstalt reiste Friederike Fliedner auch in die Diakonissenhäuser, die überall im Deutschen Bund eröffnet wurden, und wies die Schwestern, die sie in Kaiserswerth ausgebildet hatte, an ihrem neuen Wirkungsort ein.

      Nebenbei gebar sie ein Kind nach dem anderen. Catharine hatte längst den Überblick verloren, wie viele Kinder Frau Fliedner zur Welt gebracht, wie viele Fehlgeburten sie erlitten hatte.

      »Diese Schwangerschaft hätte nicht sein dürfen«, sagte Johanne noch einmal. »Georgs Geburt hat sie fast das Leben gekostet. Und dann die Sache im November … Dass Fliedner das nicht einsehen will, dass er ihr keine Pause lässt!«

      Diese Wut in ihrer Stimme. Catharine mochte Fliedner nicht, sie fühlte sich unwohl in seiner Gegenwart. Seine strenge Art, sein stechender Blick gaben ihr das Gefühl, dass er sie durchschaute und dass es nichts Gutes war, was er in ihr sah. Aber sie verstand nicht genau, warum Johanne so zornig auf ihn war.

      Das Wenige, was Catharine über das Kinderkriegen wusste, hatte sie von Tante Nelli, die in solchen Dingen offener war als Johanne, aber auch nicht richtig gesprächig. Wenn es einmal soweit wäre, hatte sie Catharine erklärt, würde sie alles schon richtig verstehen, das sei bei jeder Frau so.

      »Dass er sich nicht zügeln kann. Er ist doch sonst ein so besonnener Mensch«, murmelte Johanne.

      Wobei soll er sich zügeln, hätte Catharine gerne gefragt, aber Johanne hatte offenbar jetzt schon das Gefühl, dass sie zu weit gegangen war. Sie gähnte, griff nach der Lampe und erhob sich.

      »Beten wir für sie und für ihr Kind«, sagte sie.

      »Wie geht´s der Frau Schwester?«, fragte die Marktfrau, bei der Catharine am nächsten Tag Eier und Salat kaufte. »Man sieht sie ja überhaupt nicht mehr.«

      »Gut, danke der Nachfrage. Ich nehme noch einen Bund von den Osterglocken.«

      »Ich habe ja wohl gehört, dass es um die Frau Pastorin nicht gut bestellt ist.« Ihre hellen Augen waren schmal vor Neugierde.

      Catharine nahm den tropfenden Blumenstrauß entgegen und zuckte mit den Schultern. Mit neuen Meldungen über die Lage der Dinge im Pfarrhaus konnte sie nicht dienen. Vermutlich wusste die Marktfrau über die Fliednerschen Verhältnisse viel besser Bescheid. Sie reichte der Frau ein paar Groschen und nahm das Rückgeld in Empfang.

      Sie wollte sich verabschieden, aber so schnell gab die Frau nicht auf. »Ich kenne die Frau Schwester nun schon so lange. Das waren andere Zeiten damals, als die Alten noch hier waren, das war ein anderes Leben«, sagte sie. »Blumen zu kaufen. Davon hätte sie damals nur träumen können. Und nun geht es Ihnen so gut.«

      Catharine fragte sich, worauf die Frau hinauswollte. Es stimmte, sie waren nicht arm. Als Johannes Gönnerin, die alte Frau Händel vom Kleianshof in Kalkum, gestorben war, hatte sie Johanne einen Großteil ihres Geldes vermacht. Eine beträchtliche Summe hatte Johanne ihren Eltern in Elberfeld zukommen lassen und dann hatte sie das kleine Haus am Kuhtor gekauft und Catharine zu sich geholt. Die Zinsen, die der Rest erbrachte, reichten aus, um ihnen beiden ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

      »Nun ja«, sagte die Marktfrau und zwinkerte Catharine zu. »Geld ist ja nun nicht alles. Vielleicht blüht ihr ja auch bald das Glück?«

      »Das Glück?«

      »Das Eheglück«, raunte die Frau verschwörerisch. Und zwinkerte noch einmal, aber als sie Catharines verständnisloses Gesicht sah, räusperte sie sich verlegen. »Ich meine ja nur. Nichts für ungut. Aber da es der Frau Pastor nun so schlecht geht und wenn sie denn gar sterben sollte, braucht der Herr Fliedner doch eilends eine Neue, allein schon wegen der Kinder. Und Ihre Frau Schwester ist immer noch eine ansprechende Erscheinung und ist obendrein tugendhaft und fleißig.«

      Die Marktfrau hörte erst auf zu reden, als Catharine sich angewidert abwandte. Das war Klatsch, dachte sie, dummer Klatsch und nichts weiter. Fliedner und Johanne. Was für eine unsinnige Idee. Was für eine schreckliche Vorstellung.

      Sie wartete bis um acht, dann aß sie alleine zu Abend. Als sie ihren Teller spülte, kam Johanne endlich nach Hause.

      »Es geht zu Ende.« Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und stützte den Kopf auf die Hände. »Heute Nachmittag begann sie zu bluten. Wir haben sie zu Bett gebracht, aber es wurde nicht besser. Fliedner will an ihren Vater schreiben, dass er ihre Schwester schickt. Für die Kinder. Wenn Friederike es nur noch erlebt.«

      Catharine füllte den Kessel und setzte ihn aufs Feuer. Als sie das kochende Wasser über die getrockneten Lindenblütenblätter goss, erhob sich Johanne und begann in einem der Küchenschränke zu kramen. Fand eine kleine, staubige Flasche, entkorkte sie und goss den Inhalt in die Teekanne.

      »Du trinkst Alkohol?« Es musste wirklich schlimm um die Pastorin stehen.

      »Ich habe sie nie richtig kennengelernt«, sagte Johanne. »Niemand kennt sie. Sie ist allen fremd geblieben. Sie kennt nur ihre Arbeit, ihre Pflichten. Tut, was zu tun ist. Schultert alles klaglos. Fliedner hätte keine bessere Frau finden können.«

      Catharine nickte. Niemand kennt sie. Das war natürlich Unsinn. Alle kannten Frau Fliedner, die Pastorin, die Mutter der Diakonissen, die Unermüdliche, die Herzensgute. Aber in ihrer Vollkommenheit blieb sie allen fremd, damit hatte Johanne recht.

      »Als die Kinder gestorben sind, das hat sie verwandelt. Da ist eine Mauer gewachsen. Zwischen ihr und …« Johanne unterbrach sich, schenkte Tee ein und starrte in den weißen Dampf, der von der Tasse aufstieg.

      »Gott?«, beendete Catharine ihren Satz.

      »Nein, nein«, sagte Johanne ungeduldig. »Die Mauer war zwischen ihr und Fliedner.«

      Fliedner. Catharine sah die Marktfrau wieder zwinkern. Vielleicht blüht ihr ja bald das Glück. Hatte sich Johanne selbst Hoffnungen auf den Pastor gemacht, bevor er Friederike genommen hatte? War Friederike ihr deshalb fremd geblieben? Catharine dachte an das blasse Gesicht des Pastors. An seine rötlichen Haare, die scharfen Gesichtszüge. Diese Augen. Und schauderte.

      Da war nie etwas gewesen zwischen Johanne und Fliedner, dachte sie. Da würde nie etwas sein.

      Vier Tage später wurde Friederike Fliedner auf dem kleinen evangelischen Friedhof vor den Toren Kaiserswerths beigesetzt. Neben ihr wurde ihr Sohn begraben, den sie tot geboren hatte. Der Friedhof war überfüllt, die Leute standen bis weit auf die Straße hinaus. Die gesamte evangelische Gemeinde, aber auch zahllose Katholiken waren erschienen, um der Diakonissenmutter die letzte Ehre zu erweisen.

      Pfarrer Spieß hielt die Grabrede. Neben ihm stand Fliedner, das Gesicht noch bleicher und farbloser als sonst. Er vergoss keine Träne um seine Frau und auch Johanne weinte nicht.

      Wie ähnlich sich die beiden sind in ihrer steinernen Art, dachte Catharine, während sie sah, wie Johanne Fliedners Hand schüttelte. Ihre Lippen bewegten sich, aber Catharine konnte nicht verstehen, was sie sagte. Der Pastor entgegnete etwas, Johanne nickte, senkte den Kopf, wandte sich dann ab. Wahrscheinlich war es ein Bibelspruch gewesen.