Während Flanagan friedlich und traumlos in seinem Hotelbett schlief, fraß sich die Angst durch die Stadt, kroch durch Türschlitze in die Häuser, verbreitete Schrecken und Ruhelosigkeit.
Wer hatte ihn bestellt?
Für wen?
Für mich?
Drei bange Fragen, von denen die letzte die furchtbarste war.
Und hatte nicht jeder, der hier in der Western-Stadt um sein Dasein kämpfte, irgendwann einmal etwas getan, wofür er so einen Schießer erwarten konnte?
Die meisten ganz sicher.
Die Zeit war zu rau gewesen und das Land zu wild, als dass man in friedlicher Regelmäßigkeit sein Leben hätte hier aufbauen können.
Es hatte bei fast jedem Mann in der Stadt irgendwann Punkte gegeben, die er gern von seinem Gewissen gewischt hätte.
Vor allem jetzt in dieser Stunde.
In dieser Nacht!
Dinge, die längst in Vergessenheit geraten waren, tauchten plötzlich wieder auf. Wer hat ihn mir geschickt?
Und auf einmal fand jeder einen anderen, dem er es zutrauen würde, dass er ihm den Schießer auf den Hals geschickt hatte.
Nur ein Mann lebte in der Stadt, der in dieser Nacht sorglos zur Ruhe ging. Das war der weißhaarige Sägerei-Besitzer Jim Chesterton.
Er war der Einzige, der keine Sorgen hatte – weil er nie einem Menschen wehgetan hatte. Und weil er das ganz genau wusste.
Chesterton legte sich, müde vom Tagewerk, zur Ruhe und stand erholt in der Frühe des nächsten Morgens auf.
Als er um sieben Uhr in den Hof kam, wo seine Arbeiter schon beschäftigt waren, sah er den Mann mit dem weißen Hut ins Tor reiten.
Zahllose Augenpaare in der Mainstreet waren dem Schießer auf seinem Weg gefolgt.
Die Arbeiter in der Sägerei schraken hoch.
Jim Chesterton zog die Brauen zusammen. Plötzlich fiel ihm die Sache ein, die gestern Abend Greg Fuller erzählt hatte: Ein bekannter Revolvermann war in die Stadt gekommen. Er sollte einen weißen Hut tragen …
Chesterton kam näher.
Da rutschte der Fremde aus dem Sattel, machte zwei Schritte zur Seite und blieb stehen. Ganz kalt und ruhig, so, als tue er jeden Tag das Gleiche. Die behandschuhten Hände hingen steif neben den Revolverkolben.
»Chesterton!« Hohl klang der Ruf über den Hof.
Der weißhaarige Mann blieb stehen. Und der Schießer senkte den Kopf.
»Jim Chesterton, ich bin Hal Flanagan aus Texas!«
Der greise Sägemüller öffnete den Mund.
»Ja, Mister Flanagan, was führt Sie zu mir?«
Eine heisere Lache bellte über den Hof. Der Revolvermann stieß den Kopf jäh vor.
»Ich bin deinetwegen gekommen, Chesterton!«
Die Arbeiter rührten sich nicht. Ganz steif standen sie da, wie angewurzelt vor Schreck.
Chesterton kam langsam einige Schritte näher.
»Bleib stehen!«, herrschte der Schießer ihn an.
Unwillkürlich verhielt der Mann den Schritt.
»Ich verstehe nicht, was wollen Sie von mir.«
Die völlige Harmlosigkeit des alten Mannes irritierte den Revolvermann. Trotzdem schnarrte er: »Zieh deinen Colt, Chesterton!«
Der Sägemüller wischte sich mit der Rechten fahrig über die Stirn. Er begriff das alles tatsächlich nicht. Was wollte dieser Mann von ihm, der doch wirklich keinen Feind hatte.
Wie war das überhaupt? Da drüben, etwa noch neun Yards entfernt, stand ein Mann mit einem weißen Hut, kalkigem Gesicht und harten grauen Augen. Und er hatte gerufen: Zieh deinen Colt, Chesterton!
Die Brust des alten Mannes hob und senkte sich hastig.
»Ich …, ich habe keinen Revolver bei mir«, stieß er mit belegter Stimme hervor.
Da zog Flanagan aus seinem linken Halfter den Colt, nahm ihn hoch, deutete auf eine winzige Fensterscheibe in etwa fünfzehn Yards Entfernung oben am Hausgiebel.
»Pass auf, Chesterton!«
Der Schuss krachte.
Das kleine Fensterglas zersprang klirrend.
Chesterton begriff das nicht.
Da warf ihm der Texaner den Revolver zu.
»Es sind noch vier Patronen drin! Und dass der Colt schießt, hast du ja gesehen. Heb ihn auf!«
Der Sägemüller blickte den Fremden entgeistert an. Dann sah er auf den Colt.
»Heb ihn auf!«, rief Flanagan noch einmal.
Chesterton starrte reglos auf die Waffe. »Du sollst ihn aufheben!«, schrie der Schießer.
Der alte Mann spürte, dass ihm plötzlich der Schweiß vom Nacken hinunter über den Rücken rann. Seine Beine zitterten, er glaubte, er müsse schwanken.
Wie in Trance bückte er sich und hob den schweren Revolver auf.
»Sieh nach, ob die anderen Trommelkammern noch gefüllt sind!«
Chesterton hob den Colt und ließ die Trommel mechanisch rotieren, man sah, dass er es noch nicht oft getan hatte.
»Lass den Arm sinken, so, dass der Lauf auf die Erde zeigt!«, gebot der Texaner.
Mechanisch führte der greise Mann auch diesen Befehl aus.
Ein scharfer Beobachter konnte unschwer aus der Art, in der der Revolvermann diese Befehle gab, heraushören, dass Flanagan diese Dinge gewohnt war. Sicher hatte es vor Jim Chesterton schon andere Männer gegeben, die das Gleiche hatten durchmachen müssen, die auch keinen Colt an der Hüfte trugen. Und die auch nicht sonderlich geschickt im Umgang mit Schusswaffen waren.
Aber jetzt war es der neunundfünfzigjährige Sägemüller Jim Chesterton, der an der Reihe war. Völlig verstört, fassungslos, immer noch nicht begreifend, was ihm widerfuhr, hob er den Kopf und sah den Revolvermann an. Seine Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen, sein Mund stand offen. Sein ganzer Körper war schweißnass.
»Du bist im Vorteil!«, rief der Texaner. »Du brauchst den Colt nur zu heben. Ich muss ihn erst ziehen.«
Mary, schoss es durch den Kopf des Sägemüllers. Mary –! Sie sitzt drüben im Haus hinter der Werkstatt und weiß von nichts. Sie ahnt nicht, was hier geschieht. Sie sitzt vielleicht in der Küche über dem Salat für das Mittagessen, während ich hier in den Staub falle, mit einem glühenden Stück Blei in der Brust.
»Mister …«
»Flanagan!«, sagte der Schießer rau. »Was gibt’s noch?«
»Mister Flanagan!«, stotterte Chesterton. »Ich verstehe das alles nicht! Was soll das bedeuten? Es ist doch nicht Ihr Ernst …«
»Es ist tödlicher Ernst, Chesterton!«
»Wie sprechen Sie mit mir? Ich habe Ihnen niemals etwas getan, das Sie berechtigt, mich so verächtlich zu behandeln. Sie sind also ein Mann, den einer hergeschickt hat. Ich weiß nicht, wer das sein könnte …«
Chesterton schnappte nach Luft. Bloß jetzt nicht schlappmachen! Er fühlte, wie sein Herz wild in der Brust hämmerte und wie es in seinem Schädel dröhnte, als er die kalten Augen des Schießers vor sich sah. Nur bei klarem Kopf bleiben! Nur das konnte ihn vor diesem berufsmäßigen Mörder retten. Hier gab es keinen Mann, der ihm sonst hätte beistehen können.
Jack, ja – einen Augenblick dachte der alte Mann an seinen Sohn, der vor vier Jahren im Kampf