»Ich rufe: Zieh! Dann nimmst du den Colt hoch und schießt, Chesterton!«, befahl der Texaner.
Der Sägemüller machte einen hilflosen Schritt nach vorn. Seine letzte Minute hatte begonnen, er fühlte es. Er wusste plötzlich genau, dass sein Leben zu Ende war. Jäh und deutlich stand es vor seinem Bewusstsein.
Tausend verrückte Gedanken durchgeisterten sein Hirn. Es musste doch jetzt dunkel werden, stockfinster, damit er mich nicht mehr sieht! Ein Blitz muss aus heiterem Morgenhimmel niederfahren und diesen furchtbaren Spuk wegfegen.
Der Sheriff müsste kommen, und … Der Sheriff!
Letzter Rettungsgedanke eines gequälten Hirns.
Chesterton wandte sich zur Seite, blickte da hin, wo neben dem Tor zur großen Werkstatt mit bleichen bangen Gesichtern seine Arbeiter standen.
»Holt den Sheriff! Schnell, holt doch den Sheriff!«
Die Männer rührten sich nicht. Sie waren keine Helden und keine Selbstmörder. Alle hatten sie Kinder daheim.
Natürlich, es gab keinen unter ihnen, der dem Boss das Unglück gewünscht hätte. Im Gegenteil, es gab auch keinen unter ihnen, der Jim Chesterton nicht zu Dank verpflichtet war. Er war ein außergewöhnlicher Mann, der Boss, und hatte mit offener Hand geholfen, wo er helfen konnte. Daran gab es nichts zu rütteln.
Aber weshalb war der Revolvermann aus Texas gekommen?
Wer hatte ihn geschickt?
Da musste es doch irgendwo einen Menschen geben, der dem Boss nicht wohl wollte, der ihn hasste, seinen Tod wünschte und sogar so sehnlich herbeiwünschte, dass er den berüchtigten Schießer Flanagan aus Texas herbestellt hatte!
Sollte es im Leben des angesehenen Jim Chesterton also auch einen dunklen Punkt geben?
Es musste so sein!
Aus reiner Schießwut war der Texaner nicht hergekommen, um Chesterton zu fordern. Denn dass der weißhaarige Sägerei-Besitzer kein Revolverschütze war, das wusste jeder.
Aber jetzt, in dieser bitteren Stunde, hatten sie alle vergessen, dass er ihr Wohltäter war, der unglückliche Mann, der da mit wachsbleichem Gesicht stand und nach dem Sheriff rief.
Ein Mensch bat in höchster Not um Hilfe.
Die Männer mühten sich an ihm vorbeizusehen, auf die Erde, auf den festgestampften braunen Boden des Hofes.
In dieser letzten Minute war Jim Chesterton der einsamste Mensch der Welt. Er starrte mit glasigen Augen und offenen Lippen zu seinen Leuten hinüber.
Keinen Ton brachte er mehr durch die würgend zugeschnürte Kehle.
Sie hatten ihn verlassen.
Es war Hal Flanagans raue Stimme, die den Unglücklichen aus seinem betäubungsähnlichen Zustand in die grausame Wirklichkeit riss.
»Chesterton, sieh hierher! Ich stehe hier!«
Da wankte der unglückliche Mann mit dem weißen Haar und den schlotternden Beinen einen Schritt zur Seite.
»Ich …, kann nicht … Ich kann …«
Niemand verstand seine Worte. Es war nur ein zusammenhangloses heiseres Gegurgel, ein Röcheln fast.
»Du sollst stehen bleiben, Chesterton! Ich stehe hier. Keine unfairen Bewegungen und Finten. Hier wird ein Duell ausgetragen.«
Chesterton ließ den Kopf auf die Brust fallen. Er war bleischwer, sein Kopf, eine Zentnerlast schien ihn nach unten zu ziehen. Es rauschte in seinen Ohren, und das Herz hatte sein wildes Hämmern jäh eingestellt.
»Zieh!«, brüllte der Texaner in diese grausame Sekunde.
Chesterton rührte sich nicht.
»Zieh endlich, du Feigling!«, schrie der Schießer.
Die Männer vor dem Werkstatttor starrten auf den Mann, der bis vor wenigen Minuten noch ihr verehrter Boss gewesen war, der ihr Leben, ihr Glück und ihre Sicherheit bedeutet hatte. Einige unter ihnen, vor allem die Jüngeren, fanden jetzt, dass er sich tatsächlich wie ein Feigling benahm.
Sie ahnten ja nicht, was in dem unglücklichen Mann vorging, der kaum in seinem Leben eine Schusswaffe in seiner Hand gehabt hatte.
Niemand ahnte es.
Nur Sekunden bevor diese fürchterliche Minute abgelaufen war, schob sich ein graubärtiger Hüne aus der Mauer der Männer vor. Er machte nur einen Schritt. Dann warf er den Kopf hoch. Sein Gesicht war aschfahl. »Flanagan!«, sagte er heiser und hohl. »Lassen Sie ihn bitte …«
Da geschah es.
Jim Chesterton brach jäh nach vorn in die Knie, fiel mit dem Gesicht hart und schwer in den Staub.
Er hatte Hal Flanagans Colt noch in der Hand, die hatte sich um die Schusswaffe gekrampft.
Im Hof herrschte eisiges Schweigen.
Da setzte sich der Graubärtige in Bewegung.
»Bleib stehen!«, bellte Flanagan ihn an.
Aber der Säge-Meister Joe Cramer kümmerte sich nicht mehr um den Texaner. Er ging weiter.
Und das rechneten ihm die Arbeiter hoch an, sie würden es nie vergessen.
Cramer ging auf seinen zusammengebrochenen Boss zu, kniete neben ihm nieder, wälzte ihn auf den Rücken und sah in sein Gesicht. Nur einen Augenblick, dann erhob er sich wieder, warf dem Texaner einen hasserfüllten Blick zu und wandte sich dann an die Arbeiter.
»Er ist tot.«
Es waren nur drei Worte, aber sie fielen wie Kanonenschläge in die Gemüter der Männer.
Und drüben setzte sich Hal Flanagan jetzt in Bewegung. Mit hölzernen Schritten kam er näher. Vor dem reglosen Körper Chestertons blieb er stehen und warf nur einen kurzen Blick in sein Gesicht. Dann bückte er sich, riss dem Toten mit einem brutalen Griff den Revolver aus der starren Hand, steckte ihn ins linke Halfter, wandte sich um und ging zu seinem Pferd. Mit seltsam eckigen Bewegungen zog er sich in den Sattel und ritt aus dem Hof. Es waren kaum fünf Minuten vergangen, seit er gekommen war. Und doch hatte sich hier inzwischen eine Tragödie abgespielt.
Jim Chesterton war tot. Sein Herz hatte versagt, hatte ihm die Kugel erspart, die ihm der gefühllose Texaner zweifellos ins Leben geschickt hätte.
Was der Revolvermann zurückgelassen hatte, war kaltes Entsetzen. Eine Gruppe von Menschen, die das Scheußlichste erlebt hatte, was in diesem Land zu erleben war.
Und doch war es nur ein kleines Glied in der Kette von Grausamkeiten gewesen, die der Revolvermann Flanagan schon hinter sich zurückgelassen hatte.
Als er die Straße erreichte, seinen breiten Rücken dem Hof zukehrte, sprang ein rothaariger Bursche vor, riss seinen Colt hoch und spürte die harte Faust Joe Cramers, die ihm die Waffe aus der Hand hieb.
»Jetzt nicht mehr, Tim! Jetzt ist es zu spät …«
*
Der Texaner ritt aus der Stadt hinaus.
Es scherte ihn nicht, dass er seinem Namen in dieser Stunde einen noch dunkleren Klang, eine noch sprödere Färbung gegeben hatte.
Wie ein Wirbelwind durcheilte die Botschaft das Land. Sie eilte von der Stadt Joplin in alle Himmelsrichtungen – und sie drang auch in die kleine Missouri-Stadt Lamar.
Im großen Salon eines prächtigen, ziemlich neuen Hauses mitten in der Mainstreet von Lamar saß ein schwerer Mann mit rotem aufgedunsenem Gesicht und hervorquellenden Froschaugen hinter einem massiv eichenen Schreibtisch. Er hatte seine feisten roten Hände vor sich auf der Tischplatte liegen und starrte auf ein Zeitungsblatt.
Die schwarzen Lettern tanzten vor seinen Augen.
Da stand es ganz deutlich und klar: Sägemüller Chesterton