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Der Abt hatte ihm eine Einzelzelle zugewiesen, damit er sich in aller Abgeschiedenheit mit dem auseinandersetzen konnte, was ihm so unverhofft zuteilgeworden war. Sein Körper sollte rein sein, damit er einen klaren Geist habe, hatte der Abt verordnet. Und er sollte viel beten. Beten und fasten.
Er trank einen Schluck Wasser, aß ein trockenes Stück Brot und schlug seinen braunen Ledereinband auf.
Mein Leben, Wilhelmine Arenz
Nach unserer Hochzeit zogen Fritz und ich in das nahe gelegene Königsberg. Fritz fand dort eine Wohnung und Arbeit in einer Fabrik. Abends saßen wir gemeinsam vor dem Radio, dem Hochzeitsgeschenk seiner Eltern. Wir lauschten den Stimmen, die aus dem Radio kamen. Man sprach über uns. Über Ostpreußen, das seit dem Versailler Vertrag mitten in Polen lag und keine direkte Verbindung zum Deutschen Reich mehr hatte. Hitler wollte Danzig zurückhaben. Hitler wollte Ostpreußen mit einer exterritorialen Eisenbahn an das Reich anbinden. Fritz war begeistert von Hitler und seine Begeisterung übertrug sich auf mich. Wir lauschten den Stimmen aus dem Radio und wussten, dass die ganze Welt auf uns schaute. Als die deutsche Armee im September 1939 endlich die polnische Grenze überschritt, lagen Fritz und ich uns jubelnd in den Armen. Nur wenige Wochen später berichteten die Stimmen aus dem Radio aus Warschau, wo am 3. Oktober die deutsche Siegesparade stattfand. Sie beschrieben uns die siegreichen deutschen Soldaten, die zwischen zerschossenen Häusern, umgestürzten Straßenbahnwagen und anderen Barrikaden im Gleichschritt marschierten, den Arm zum Gruß erhoben. Heil Hitler!, ertönte es tausendfach in unserem bescheidenen Wohnzimmer. Mir machte das beschriebene Bild der Verwüstung Angst. Bei Fritz hatte es eine vollkommen andere Wirkung. Er wollte Polen brennen sehen und beschwor das neue Deutsche Reich. An diesem Tag beschloss Fritz, Soldat zu werden.
Alles war gut. Das Deutsche Reich hatte Ostpreußen wieder in sich aufgenommen. Die deutsche Armee war unbesiegbar, der Führer unsterblich und Fritz voller Tatendrang und Manneskraft. Die Nacht nach der Siegesparade in Warschau war die Nacht, in der Fritz mich schwängerte.
20. Dezember 2007, 12:05 Uhr
Im Schlafzimmer der Eheleute Liebig tummelten sich drei Kollegen von der Spurensicherung mit übergezogenen Plastikanzügen. Siebels blieb am Türrahmen stehen. Das Erste, was ihm auffiel, war die Botschaft, von der Petri gerade gesprochen hatte. Mit blutverschmiertem Finger war sie auf die Spiegelfront des Kleiderschrankes geschrieben worden.
Cavendum ergo ideo malum desiderium quia mors secus introitum delectationis posita est.
»Mein Latein beschränkt sich leider auf das medizinische«, bedauerte Petri. »Das hier klingt auf jeden Fall religiös.«
»Ein religiös motivierter Mörder?« Siebels drehte sich zu Petri um. »So was gibt es entweder im Kino oder in Amerika, aber doch nicht mitten in Frankfurt.«
»Jetzt anscheinend schon. Irgendwann kommt ja alles mal von den Amis hier drüben an«, sinnierte Petri. »Am besten fragen Sie mal einen Fachmann aus der Kirche, da wird Ihnen bestimmt geholfen.«
»Schreib das mal auf«, wies Siebels Till an.
»Wir haben sie!« Die Stimme kam von unten und war die von Jensen.
»Wen haben wir?«, brüllte Siebels zurück.
Hastig kam Jensen die Treppe herauf. »Na, die Liebigs natürlich. Sie befinden sich auf einer Reise in Kalifornien. Jetzt machen sie sich aber unverzüglich auf den Rückweg.«
»Das kann ja noch etwas dauern«, antwortete Siebels. »Jetzt rede ich erst mal mit der Haushälterin und dann fahren wir in die Psychiatrie. Ich kann es kaum erwarten, mir diesen Kerl anzuschauen, der seelenruhig mit irrem Blick im Blut der Toten gesessen haben soll.«
Die Blicke von Siebels und Till wanderten von dem blutbeschmierten Spiegel des Kleiderschrankes durch den Raum. Die tote Magdalena Liebig lag auf dem elterlichen Bett. Der dunkelbraune Parkettboden war überall mit Blut verschmiert. Siebels schätzte sie auf Mitte vierzig. Er fragte sich, warum eine Frau in diesem Alter nackt auf dem Bett der Eltern getötet wurde. Sie war etwas mollig, aber nicht dick.
»Wo sind denn ihre Klamotten?«, fragte Till den Chef der Spurensicherung.
»Die waren im ganzen Haus verteilt. Darum haben wir uns zuerst gekümmert. Alles genau dokumentiert und fotografiert. Unten vor der Eingangstür lag der Rock. Die Bluse fanden wir auf der untersten Treppenstufe. Strumpfhose im Flur, Slip im Schlafzimmer unter dem Fensterbrett.«
»War etwas zerrissen?«
»Nein. Sieht nicht so aus, als hätte sie einer gegen ihren Willen ausgezogen.«
»Hatte sie Geschlechtsverkehr?«
»Das fragen Sie besser Petri.«
Siebels drehte sich um, Petri stand am anderen Ende des Flurs und schaute aus dem Fenster. Siebels gesellte sich zu ihm. Von hier aus hatte man freien Blick auf die Pferderennbahn.
»Geschlechtsverkehr?«
»Ja.«
»Vergewaltigung?«
»Eher nein.«
»Danke.«
»Gerne.«
Siebels ging zurück zur Leiche und zur Spurensicherung. »Habt ihr hier noch was von dem Mann gefunden, der in ihrem Blut gesessen hat?«
»Nee, der war schon weg, als wir eintrafen.«
Siebels fluchte innerlich. Wenigstens auf die Spurensicherung hätte der alte Petri warten können, bevor er den Kerl in die Klapse verfrachtet hatte. Er ging wieder den Gang zurück zu Petri.
»Der Mann, der war nackt?«
»Ja.«
»Wo waren seine Klamotten?«
»Keine Klamotten.«
»Keine Klamotten? Sicher?«
»Wir haben nichts gefunden. Es sei denn, er hat seine Kleider in den Kleiderschrank ihrer Eltern gehängt. Das wurde noch nicht überprüft, soweit ich weiß.«
»Sehr merkwürdig. Haben Sie ihn nackt in die Klinik einliefern lassen?«
»Mein Mantel. Ich habe ihm meinen Mantel gegeben.«
»Sie sind ein Samariter.«
»Ich weiß. Tut mir leid, dass ich Ihnen die Arbeit erschwere mit meiner eigenmächtigen Entscheidung, den Kerl einliefern zu lassen. Aber Staatsanwalt Jensen hat darauf bestanden, dass Sie und Ihr Kollege Krüger den Fall übernehmen. Und Sie beide waren ja offiziell schon im Urlaub. Es ist bereits ein paar Stunden her, dass wir den Mann oben aufgefunden haben. Er saß da, als die Haushälterin kam. Das war so gegen neun. Die ersten Polizeibeamten kamen zehn Minuten später. Sie waren nicht in der Lage, den Mann vom Fußboden wegzuholen. Sie hatten Angst vor ihm. Stellen Sie sich vor, die Beamten stehen mit gezogenen Waffen vor einem Mann, der regungslos im Blut von Frau Liebig sitzt. Er nahm von den Beamten gar keine Notiz. Angeblich hat er etwas vor sich hin gebrummt. Aber niemand verstand, was er sagte. Wenn sie ihn anfassen wollten, bekam er Schreianfälle. Ich musste ihn fortschaffen lassen. Das ging erst, als ich ihm eine Beruhigungsspritze gegeben hatte. Vier Mann mussten ihn dazu festhalten.«
Siebels nickte nachdenklich. »Vielleicht kann uns ja die Haushälterin etwas über ihn erzählen. Kommen Sie mit nach unten, wenn ich sie befrage?«
»Ja, gerne. Anschließend möchte ich Sie sowieso begleiten, wenn Sie in die Klinik fahren. Der Mann interessiert mich.«
Siebels