Gleich nach Edgars Tod hatte Hildebrand gegen mich die Meinung geäußert, dieser werde nun ohne den Freund in sein Nichts zurücksinken. Aber Vanzetti war ein Stück Volk und darum unverderblich. Der strengen Wissenschaftlichkeit Edgars gleichsam entschlüpfend, ließ er jetzt seiner magischen Natur erst recht die Zügel schießen. Er geriet beim Landvolk in den Ruf eines Wundertäters, und auch viele von den fremden Badegästen, für die er noch etwas von dem Nimbus Edgars an sich trug, gewann er für seine Kuren. Was er verschrieb, kam weniger in Frage, der Glaube tat es, den er besaß wie irgendein Magier. Dass auch mein Mütterlein dem Zauber verfiel, war für mich ein großer Segen; ich konnte sie ihm zuweilen zur Obhut überlassen und mich innerlich ausrasten. Er hatte die eigene Mutter verloren, an der er mit so ängstlicher Liebe hing, dass er nie den Mut fand, ihr Herz zu behorchen, und ihre Behandlung Edgar überlassen hatte; so verstand er meine Bangnis und war trotz seiner Leichtherzigkeit immer zur Hand, wenn man den Arzt brauchte. Wenn er pfeifend am Strande herankam, von der Jugend und der Weiblichkeit wie ein Rattenfänger umschwärmt, so glänzte sie auf und zählte die Schritte, bis er mit einer rauschenden Woge von Fröhlichkeit ins Haus trat. Trotz aller äußeren und inneren Unähnlichkeit sah sie doch immer ein Stück Edgar in ihm. Seit er ganz frei von geistigen Belangen nur noch die Bauernhöfe in den Bergwäldern aufsuchte oder am Strand mit seinen Patienten Ball und Boccia spielte, erinnerte er mit den zugespitzten Ohren unter dem dunklen Ringelhaar mehr und mehr an Pan, den ländlichen Gott. Da er nicht wusste, was das für ein Ding war, so ließ ich ihm zu seinem Entzücken aus Berlin ein Lichtbild von dem schönen Pan des Signorelli im Friedrichsmuseum kommen, zu dessen bocksfüßiger Majestät die Lebensalter ihre Wünsche und Klagen bringen; in dieser Gestalt erkannte er sich selbst. Nur die schmerzliche Tragik im Angesichte des Gottes war ihm fremd; in solche Tiefen drang die unbeschwerte Seele nicht, die auch längst schon die Trauer um den verlorenen Freund in heiter liebende Erinnerung verkehrt hatte.
Meine Mutter war bis zu Edgars Tod niemals ernstlich krank gewesen mit Ausnahme eines einzigen Falles im Vorjahr, der auf eine bei Krankenpflege im Hause des Sohnes, von der sie sich nicht abhalten ließ, geholte Überanstrengung zurückging. Ich hatte sie damals bei mir gehabt und gesund gepflegt; die glückliche Seelenverfassung hatte dem Körper schnell wieder aufgeholfen. Jetzt war es anders. Die vorigen beängstigenden Erscheinungen stellten sich von Zeit zu Zeit aufs neue ein, und da war in ihrem Florenz kein Edgar mehr, sie richtig zu überwachen. Der erste neue Anfall trat auf, als sie es durchgesetzt hatte, mit Freunden in deren Wagen den Vielgeliebten auf Trespiano zu besuchen, wobei es auf der Heimfahrt gerade an der steilsten Stelle zum Zusammenstoß mit einem anderen Fuhrwerk kam. Sie trug zwar keine Verletzung davon, denn man fuhr noch nicht mit Benzin, wohl aber eine starke Erschütterung, sodass sie sich für Tage legen musste, für sie eine harte Zumutung. Von da an konnte ihre flammende Seele nicht mehr verheimlichen, dass es eine Achtundsiebzigjährige war, die der Tod ihres Lieblings ins Herz getroffen hatte! Sie war nicht krank, aber sie kränkelte, ein Rad war gebrochen in dem so wunderbaren Gefüge, wenn es auch weiter arbeitete. Auch das Zusammenleben wurde schwieriger: Gesichter, die sie nicht gerne sah, durften nicht mehr ins Haus, gleichviel, in welche Lage ich dadurch geriet. Für sie war es das Recht des Unglücks, auch Ungerechtes zu fordern, und ich musste willfahren, um schlimmste Krisen zu vermeiden –, nicht weil sie meine Mutter, sondern weil sie mein Kind war, mein schwer getroffenes Kind, das, wie ich mir nicht verhehlen konnte, jetzt seine letzten Kräfte verbrauchte. Den Verbrauch verlangsamen, schonen und wieder schonen war das einzige, was zu tun blieb. Aber nur die Sommer in Forte taten ihr noch wohl; in dem ihr öde gewordenen Florenz hatte sie keine Ruhe mehr. Bald zog sie’s nach Venedig, wo Alfred immer sehnsuchtsvoller die Arme nach seiner Mutter ausstreckte, bald nach München zu Erwin. Die Wahl fiel auf München, wohin ich sie in Begleitung von Hildebrands vorausreisen ließ, um selber die Wohnung aufzuräumen und nachzufolgen. Ich suchte mir eine Pension in ihrer Nähe und hoffte wieder einmal aufzuatmen, aber nun quälte sie eine ahnende Sorge um Alfred. Ich war der Reise nach Venedig entgegen gewesen, weil ich wusste, dass der sie am tiefsten von allen ihren Söhnen liebende am wenigsten imstande war, ihrem Seelenfrieden Rechnung zu tragen. Denn weil er in seiner venezianischen Ehe keine Spur von dem häuslichen Umsorgtsein hatte finden können, das deutschen Männern ein Bedürfnis ist, und es einen geistigen Umgang dort für ihn nicht gab, war er in eine Lebensweise verfallen, die seine Gesundheit aufs schwerste schädigte und der er bei der feurigsten Liebe zu den Seinen nicht mehr zu entsagen vermochte. Da wurde mit einem Male der Drang zu diesem Sohn in dem Mutterherzen unwiderstehlich, dass sie sogar den ganz fantastischen Entschluss fasste, allein zu ihm zu fahren; so blieb mir nichts übrig als nach einer Reisegesellschaft für sie zu suchen. Aber ehe sich Gelegenheit fand, rief ein Telegramm der Angehörigen Erwin zu dem jählings Schwererkrankten nach Venedig. Er fuhr augenblicklich und kam gerade recht, ihm die Augen zuzudrücken, – der zweite tiefgeliebte Bruder, den er in weniger als zehn Monaten sterben sehen musste. Hatte der eingliedrige aber zähe Edgar vierzehn Tage mit dem Tode gerungen, so fiel Alfreds strotzende Kraftnatur auf den ersten Streich. Er hatte keinen Widerstand mehr aufzubieten, denn bei dem Verluste dieses Bruders war das Herz in ihm gebrochen. Er hatte in der Tat mehr verloren als alle andern. Seit er erwachsen war, hatte er in dem älteren Bruder, der ihm in der Wissenschaft wie im Leben voranleuchtete, seinen väterlichen Vormund und Berater gesehen, wie er in der Mutter nach wie vor die Führerin sah, der er zwar oft aber immer mit schlechtem Gewissen ungehorsam war. Bei den beiden je und je ein paar selige heimatliche Tage in Florenz in der Via delle Porte nuove zu verbringen, das war für ihn der Traum des ganzen Jahres. Nun war dieses ganze Florenz für ihn eingestürzt; er saß an Leib und Seele frierend in seiner letzten schönen Wohnung, dem Palazzo Falier am Canal Grande, und verbrachte seine Nächte einsam bei den großen Bücherschätzen, die er von seinem Freund, dem Pastor Elze in Venedig, geerbt hatte, und beim Wein, der ein tröstendes Gift für ihn war.
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