Gesammelte Werke. Isolde Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962812515
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das war und blieb er ihr ne­ben al­len sei­nen Ge­schwis­tern – gleich zu An­fang ab­len­ken kön­nen. Aber wür­de der leich­te Cham­pa­gner­rausch, in den sie ver­setzt war, vor­hal­ten? Das Wun­der ge­sch­ah, er hielt vor. Sie ver­brach­te die Stun­den da­mit, sei­ne Ge­dich­te, die sie mit aus­wähl­te, für den Druck ab­zu­schrei­ben und schrieb sie im­mer von neu­em ab, für sich und an­de­re. Auch in For­te, wo sie nun nie­mals wie­der die ge­lieb­tes­te Ge­stalt aus dem Nach­bar­hau­se tre­ten sah, er­wies sich die fast un­glaub­li­che Un­ab­hän­gig­keit ih­rer Lie­be von der sinn­li­chen Er­schei­nung. Dazu hal­fen auch die Freun­de mit, für die er gleich­falls ein Le­ben­di­ger blieb. Vor al­len an­de­ren, wie sich’s ver­steht, sein zwei­tes Ich, sein Car­lo Van­zet­ti.

      Gleich nach Ed­gars Tod hat­te Hil­de­brand ge­gen mich die Mei­nung ge­äu­ßert, die­ser wer­de nun ohne den Freund in sein Nichts zu­rück­sin­ken. Aber Van­zet­ti war ein Stück Volk und dar­um un­ver­derb­lich. Der stren­gen Wis­sen­schaft­lich­keit Ed­gars gleich­sam ent­schlüp­fend, ließ er jetzt sei­ner ma­gi­schen Na­tur erst recht die Zü­gel schie­ßen. Er ge­riet beim Land­volk in den Ruf ei­nes Wun­der­tä­ters, und auch vie­le von den frem­den Ba­de­gäs­ten, für die er noch et­was von dem Nim­bus Ed­gars an sich trug, ge­wann er für sei­ne Ku­ren. Was er ver­schrieb, kam we­ni­ger in Fra­ge, der Glau­be tat es, den er be­saß wie ir­gend­ein Ma­gier. Dass auch mein Müt­ter­lein dem Zau­ber ver­fiel, war für mich ein großer Se­gen; ich konn­te sie ihm zu­wei­len zur Ob­hut über­las­sen und mich in­ner­lich aus­ras­ten. Er hat­te die ei­ge­ne Mut­ter ver­lo­ren, an der er mit so ängst­li­cher Lie­be hing, dass er nie den Mut fand, ihr Herz zu be­hor­chen, und ihre Be­hand­lung Ed­gar über­las­sen hat­te; so ver­stand er mei­ne Bang­nis und war trotz sei­ner Leicht­her­zig­keit im­mer zur Hand, wenn man den Arzt brauch­te. Wenn er pfei­fend am Stran­de her­an­kam, von der Ju­gend und der Weib­lich­keit wie ein Rat­ten­fän­ger um­schwärmt, so glänz­te sie auf und zähl­te die Schrit­te, bis er mit ei­ner rau­schen­den Woge von Fröh­lich­keit ins Haus trat. Trotz al­ler äu­ße­ren und in­ne­ren Un­ähn­lich­keit sah sie doch im­mer ein Stück Ed­gar in ihm. Seit er ganz frei von geis­ti­gen Be­lan­gen nur noch die Bau­ern­hö­fe in den Berg­wäl­dern auf­such­te oder am Strand mit sei­nen Pa­ti­en­ten Ball und Boc­cia spiel­te, er­in­ner­te er mit den zu­ge­spitz­ten Ohren un­ter dem dunklen Rin­gel­haar mehr und mehr an Pan, den länd­li­chen Gott. Da er nicht wuss­te, was das für ein Ding war, so ließ ich ihm zu sei­nem Ent­zücken aus Ber­lin ein Licht­bild von dem schö­nen Pan des Si­gno­rel­li im Fried­richs­mu­se­um kom­men, zu des­sen bocks­fü­ßi­ger Ma­je­stät die Le­bensal­ter ihre Wün­sche und Kla­gen brin­gen; in die­ser Ge­stalt er­kann­te er sich selbst. Nur die schmerz­li­che Tra­gik im An­ge­sich­te des Got­tes war ihm fremd; in sol­che Tie­fen drang die un­be­schwer­te See­le nicht, die auch längst schon die Trau­er um den ver­lo­re­nen Freund in hei­ter lie­ben­de Erin­ne­rung ver­kehrt hat­te.

      Mei­ne Mut­ter war bis zu Ed­gars Tod nie­mals ernst­lich krank ge­we­sen mit Aus­nah­me ei­nes ein­zi­gen Fal­les im Vor­jahr, der auf eine bei Kran­ken­pfle­ge im Hau­se des Soh­nes, von der sie sich nicht ab­hal­ten ließ, ge­hol­te Übe­r­an­stren­gung zu­rück­ging. Ich hat­te sie da­mals bei mir ge­habt und ge­sund ge­pflegt; die glück­li­che See­len­ver­fas­sung hat­te dem Kör­per schnell wie­der auf­ge­hol­fen. Jetzt war es an­ders. Die vo­ri­gen be­ängs­ti­gen­den Er­schei­nun­gen stell­ten sich von Zeit zu Zeit aufs neue ein, und da war in ih­rem Flo­renz kein Ed­gar mehr, sie rich­tig zu über­wa­chen. Der ers­te neue An­fall trat auf, als sie es durch­ge­setzt hat­te, mit Freun­den in de­ren Wa­gen den Viel­ge­lieb­ten auf Tre­spia­no zu be­su­chen, wo­bei es auf der Heim­fahrt ge­ra­de an der steils­ten Stel­le zum Zu­sam­men­stoß mit ei­nem an­de­ren Fuhr­werk kam. Sie trug zwar kei­ne Ver­let­zung da­von, denn man fuhr noch nicht mit Ben­zin, wohl aber eine star­ke Er­schüt­te­rung, so­dass sie sich für Tage le­gen muss­te, für sie eine har­te Zu­mu­tung. Von da an konn­te ihre flam­men­de See­le nicht mehr ver­heim­li­chen, dass es eine Achtund­sieb­zig­jäh­ri­ge war, die der Tod ih­res Lieb­lings ins Herz ge­trof­fen hat­te! Sie war nicht krank, aber sie krän­kel­te, ein Rad war ge­bro­chen in dem so wun­der­ba­ren Ge­fü­ge, wenn es auch wei­ter ar­bei­te­te. Auch das Zu­sam­men­le­ben wur­de schwie­ri­ger: Ge­sich­ter, die sie nicht ger­ne sah, durf­ten nicht mehr ins Haus, gleich­viel, in wel­che Lage ich da­durch ge­riet. Für sie war es das Recht des Un­glücks, auch Un­ge­rech­tes zu for­dern, und ich muss­te will­fah­ren, um schlimms­te Kri­sen zu ver­mei­den –, nicht weil sie mei­ne Mut­ter, son­dern weil sie mein Kind war, mein schwer ge­trof­fe­nes Kind, das, wie ich mir nicht ver­heh­len konn­te, jetzt sei­ne letz­ten Kräf­te ver­brauch­te. Den Ver­brauch ver­lang­sa­men, scho­nen und wie­der scho­nen war das ein­zi­ge, was zu tun blieb. Aber nur die Som­mer in For­te ta­ten ihr noch wohl; in dem ihr öde ge­wor­de­nen Flo­renz hat­te sie kei­ne Ruhe mehr. Bald zog sie’s nach Ve­ne­dig, wo Al­fred im­mer sehn­suchts­vol­ler die Arme nach sei­ner Mut­ter aus­streck­te, bald nach Mün­chen zu Er­win. Die Wahl fiel auf Mün­chen, wo­hin ich sie in Beglei­tung von Hil­de­brands vor­aus­rei­sen ließ, um sel­ber die Woh­nung auf­zuräu­men und nach­zu­fol­gen. Ich such­te mir eine Pen­si­on in ih­rer Nähe und hoff­te wie­der ein­mal auf­zuat­men, aber nun quäl­te sie eine ah­nen­de Sor­ge um Al­fred. Ich war der Rei­se nach Ve­ne­dig ent­ge­gen ge­we­sen, weil ich wuss­te, dass der sie am tiefs­ten von al­len ih­ren Söh­nen lie­ben­de am we­nigs­ten im­stan­de war, ih­rem See­len­frie­den Rech­nung zu tra­gen. Denn weil er in sei­ner ve­ne­zia­ni­schen Ehe kei­ne Spur von dem häus­li­chen Um­sorgt­sein hat­te fin­den kön­nen, das deut­schen Män­nern ein Be­dürf­nis ist, und es einen geis­ti­gen Um­gang dort für ihn nicht gab, war er in eine Le­bens­wei­se ver­fal­len, die sei­ne Ge­sund­heit aufs schwers­te schä­dig­te und der er bei der feu­rigs­ten Lie­be zu den Sei­nen nicht mehr zu ent­sa­gen ver­moch­te. Da wur­de mit ei­nem Male der Drang zu die­sem Sohn in dem Mut­ter­her­zen un­wi­der­steh­lich, dass sie so­gar den ganz fan­tas­ti­schen Ent­schluss fass­te, al­lein zu ihm zu fah­ren; so blieb mir nichts üb­rig als nach ei­ner Rei­se­ge­sell­schaft für sie zu su­chen. Aber ehe sich Ge­le­gen­heit fand, rief ein Te­le­gramm der An­ge­hö­ri­gen Er­win zu dem jäh­lings Schwe­rer­krank­ten nach Ve­ne­dig. Er fuhr au­gen­blick­lich und kam ge­ra­de recht, ihm die Au­gen zu­zu­drücken, – der zwei­te tief­ge­lieb­te Bru­der, den er in we­ni­ger als zehn Mo­na­ten ster­ben se­hen muss­te. Hat­te der ein­glied­ri­ge aber zähe Ed­gar vier­zehn Tage mit dem Tode ge­run­gen, so fiel Al­freds strot­zen­de Kraft­na­tur auf den ers­ten Streich. Er hat­te kei­nen Wi­der­stand mehr auf­zu­bie­ten, denn bei dem Ver­lus­te die­ses Bru­ders war das Herz in ihm ge­bro­chen. Er hat­te in der Tat mehr ver­lo­ren als alle an­dern. Seit er er­wach­sen war, hat­te er in dem äl­te­ren Bru­der, der ihm in der Wis­sen­schaft wie im Le­ben vor­an­leuch­te­te, sei­nen vä­ter­li­chen Vor­mund und Be­ra­ter ge­se­hen, wie er in der Mut­ter nach wie vor die Füh­re­rin sah, der er zwar oft aber im­mer mit schlech­tem Ge­wis­sen un­ge­hor­sam war. Bei den bei­den je und je ein paar se­li­ge hei­mat­li­che Tage in Flo­renz in der Via del­le Por­te nuo­ve zu ver­brin­gen, das war für ihn der Traum des gan­zen Jah­res. Nun war die­ses gan­ze Flo­renz für ihn ein­ge­stürzt; er saß an Leib und See­le frie­rend in sei­ner letz­ten schö­nen Woh­nung, dem Palaz­zo Fa­lier am Canal Gran­de, und ver­brach­te sei­ne Näch­te ein­sam bei den großen Bü­cher­schät­zen, die er von sei­nem Freund, dem Pas­tor Elze in Ve­ne­dig, ge­erbt hat­te, und beim Wein, der ein trös­ten­des Gift für ihn war.

      Als