Warum denn sollen auf getrennten Pfaden
Wir unsre Wege gehn zum gleichen Ziel?
Ist’s Schicksalsfluch, mit welchem wir beladen?
Ist’s eines bösen Zufalls tückisch Spiel?
Wir sind uns fremd, doch keines von uns beiden
Weiß, welche Saite fehlt zur Harmonie.
Was sind es denn für Schranken, die uns scheiden?
Warum, warum denn finden wir uns nie?
Darf ich das Dunkel wohl zu lüften wagen?
Bleibt denn dein Herz und Mund für immer stumm?
O gib mir Antwort! sprich! ich will dich fragen
Mit meiner Seele ganzer Glut: Warum?
Ich hätte die gleiche unausgesprochene Frage stellen können, auf die beide keine Antwort wussten. So weit ich durch den Nebel der Vergangenheit stoßen kann, sehe ich die Entfremdung bis auf die Übergangszeit vom Knaben zum Jüngling zurückgehen. Zwar hatte es für Edgar keine Flegeljahre wie für den wilden Alfred gegeben, dafür war er zu zart und zu vornehm, aber es trat ein vorübergehendes Stocken seiner Entwicklung ein, dass ihm die nur wenig jüngere Schwester, wie es beim weiblichen Geschlecht natürlich ist, um eine Wegstrecke voranlief, sowohl was die geistige Reife als was die körperliche Länge betrifft. Zugleich erlebte er, dass ich blutjung, wie ich war, doch von den männlichen Besuchern des Hauses schon mit Aufmerksamkeiten umgeben und von ihm abgedrängt wurde, während er noch als halber Knabe danebenstand. Gewiss hat er mit seinem reizbaren Ehrgefühl dabei mehr gelitten, als ich ahnen konnte und als er ahnen ließ. Wenn er mir mit nassen Augen die Niedernauer Balltrophäen vom Arme riss und in das vorbeifließende Bächlein warf, so fühlte ich mich als unschuldige Zielscheibe einer knabenhaften Laune, und wenn er dann gar noch eine Streitschrift gegen das Tanzen verfasste und drucken ließ, so sah ich darin nur das Anzeichen einer wachsenden Schrullenhaftigkeit, der ich bestrebt war auszuweichen. Dass in ihm etwas riss und blutete, sah ich nicht, denn er zog eine Dornenhecke um sich, der niemand nahen konnte. Vielleicht geschah es, weil er im Grunde eine weichere Natur war als ich und weil er Weichheit für unmännlich hielt. Und als gar seine leidenschaftliche Jünglingsfreundschaft mit unserem Ernst Mohl an seinem Anspruch des Alleinbesitzens in Stücke ging, gab es fortan für ihn keine Gefühlsäußerung mehr. Wie er als Kind unter allen Geschwistern allein ein verschließbares Kästchen besessen hatte, worin er seine kindlichen Herrlichkeiten, wie Farbenschalen, bunte Bleistifte und blinkende Rechenpfennige, bewahrte und in das auch ich, die er am meisten liebte, nur in seltenen Stunden einen Blick werfen durfte, so trug er später sein ganzes inneres Leben als verschlossenen Schrein mit sich, nur je und je der Muse sich im Tiefgeheimen offenbarend, dass nicht einmal seine Mutter sich ihm mit einer Zärtlichkeit zu nahen wagte. Aber die Fremdheit zwischen uns war nur eine scheinbare, die innere Wärme dauerte auch unausgesprochen bis zuletzt. Nicht einmal die Ehe vermochte sie wirklich zu zerstören, diese gefährlichste von allen Bindungen, die jede andere Bindung durch den bloßen Tropfenfall des Alltags auflöst, wie es kein Sturm der Leidenschaft vermag; die aus einem Ganzen eine Hälfte macht, oft genug aus einem großen starken Ganzen die Hälfte eines kleinen und schwachen, auch sie rüttelte nicht wahrhaft an dem angeborenen Band. Und immer blieb die Aussicht, man würde sich in späteren Jahren wieder näher und besser verstehen. Und nun mit einem Male alles vorüber? Das ganze Spiel zwischen Tod und Leben schien mir so maskenhaft und unwahrscheinlich. Denn da stand noch immer die Gestalt meines Bruders neben dem Wachsbild auf dem Lager, völlig unversehrt und gegenwärtig, von Geist strahlend; ich suchte mir die Vorstellung seines Nichtmehrseins einzuprägen, aber es gelang mir nicht. War es eine Schwäche der Empfindung? Hatte es eine tiefere metaphysische Ursache? Ich konnte bei keinem Todesfall wahrhaft trauern. Niemand starb mir je. Ich glaubte im tiefsten Innern nicht an den Tod.
Auch meiner Mutter schien es so zu gehen. Sie stand in Ruhe und Fassung neben dem Lager, von dem man sie während des letzten Kampfes ferngehalten hatte, sie klagte und weinte nicht und folgte mir am Abend still aus dem für sie leer gewordenen Hause.
Nach der Einäscherung in Trespiano, als die Trauergäste sich bei mir in der Via de’ Bardi versammelten, erschien auch Römer und überreichte mir eine Lilie, in deren Kelch er einen kleinen weißen Aschenrest aus dem Leichenbrand meines Bruders verborgen hatte. Er war zu dem Feuer hinabgestiegen, ihn für mich zu holen.
Es war einer jener Augenblicke im Leben, die nicht vergehen. Noch immer bewahre ich den Aschenrest mit der zerfallenen Lilie in einem kleinen gläsernen Sarge.
Was ist mir von dir noch geschenkt?
Nur ein Rest von schneeweißer Asche,
In den Kelch einer Lilie versenkt.
Ein Liebender holte sie fromm
Aus sinkendem Feuerbade,
Wo die edle Hülle verglomm.
Die Lilie duftet so schwül,
Umfängt mit Taumel die Stirne
Und verwehter Bilder Gewühl.
Ich schau durch der Jahre Flor,
Da seh ich als Kinder uns beide
Vor des Lebens schimmerndem Tor.
Eintraten wir Hand in Hand,
Durchschwärmten in gleichem Verlangen
Der Jugend Verheißungsland.
In der Dichtung Wunderpalast,