Auch diesmal griff ich zu dem schon bewährten Mittel, den ersten Mutterschmerz zu lindern, indem ich das Lebensbild auch dieses Geschiedenen schrieb und es zuerst in der »Allgemeinen Zeitung«, dann in meinen »Florentinischen Erinnerungen« neben dem seines Bruders veröffentlichte. Diesmal hatte ich nicht einen Kämpfer und Helden, nicht einen Forscher und Dichter zu schildern, nur ein goldenes, an Liebe und Güte unerschöpfliches Herz, einen aufopferungsvollen Arzt, einen Freund und Schützer aller Kreatur und ein freudiges, sinnenfrohes, aber doch immer im Geistigen verwurzeltes Temperament voll strahlender Laune. Dieses goldene Herz besaß ringsum in der Welt Freunde, denen er in seinem Venedig Gutes getan, – bei seiner großen Zugänglichkeit besaß er deren sogar mehr als sein weit bedeutenderer älterer Bruder. Sie alle erreichte der Nachruf in der »Allgemeinen Zeitung« und erweckte die dankbare Erinnerung, dass sie sich mit teilnehmenden Briefen an die Mutter wandten und damit die erste durch den Ausfall der Sohnesbriefe entstandene Leere deckten. Aber der Riss ins Leben war zu groß geworden, als dass eine Fortsetzung des bisherigen Zustands möglich gewesen wäre. Schon der vergangene Winter hatte gezeigt, dass ein trauliches Eigenheim als Nest der Geborgenheit und Arbeitsstille mit dem Mütterlein zusammen sich auch jetzt nicht durchführen ließ. Ihr beginnendes Siechtum, das doch das starke Temperament nicht dämpfen konnte, hinderte den Gleichlauf der Tage. Und nun fehlte nicht nur Edgar, es war auch kein Alfred mehr da, sie wenigstens aus der Ferne zu umsorgen. Zwar die strahlenden Sommer in Forte konnte ich ihr und mir noch erhalten. Aber die schöne Wohnung in der Via de’ Bardi musste schließlich aufgegeben werden, nachdem sie zwei Jahre lang so gut wie leer gestanden hatte. Nur der Eintritt in eine festgefügte, von anderer Hand geleitete Hausordnung konnte die Not wenden und mir die Kraft zur Pflege und, wenn möglich, auch noch ein Endchen Zeit für die Arbeit am Schreibtisch wahren. Denn die Lebensbeschreibung meines Vaters, für die ich noch im letzten Sommer in der Via de’ Bardi die schriftlichen Zeugnisse gesammelt und gesichtet hatte, war ja im ersten Stadium des Werdens, und die beiden älteren Brüder, auf deren Mithilfe ich, wenn auch bloß durch belebende persönliche Erinnerungen, gezählt hatte, waren dahingegangen, bevor ich auch nur in der Lage war, die Absicht mit ihnen durchzusprechen. Es gibt ein italienisches Sprichwort: Chi ha tempo non aspetti tempo, eine Umformung des alten Carpe diem: So gern lässt man ja den nächsten Augenblick aus der Hand, auf einen besseren wartend, der nicht mehr kommt. Meine Mutter war zu fantasievoll und zu persönlich befangen, um als sichere historische Stütze dienen zu können. Außerdem fehlte es stark an einschlägiger Literatur, die sich in Florenz nicht auftreiben ließ. Also war ich wieder einmal fast ganz auf mich selber angewiesen, und wenn es mir schießlich doch gelang, die schwerwiegende Aufgabe zu lösen, so habe ich wahrhaftig keiner Gunst der Umstände zu danken, sondern einzig der Größe und Bedeutung des Gegenstands. Dabei widerfuhr mir der seltsame Irrtum, dass ich mich in der Vorrede zu einem Bruch bekannte, der – vermeintlicherweise – durch die jähen Schicksalsstöße während der Arbeit in die Darstellung gekommen wäre. Es soll nur niemand glauben, ein Unrecht, das er sich selber getan, werde je von fremder Seite berichtigt werden; ist eine Formel geprägt, so bleibt sie stehen. Die Kritik, die im übrigen das Buch sehr warm aufnahm, bemächtigte sich meines falschen Geständnisses, und ich bekam wieder und wieder zu hören, dass ein Bruch durch das Buch gehe. Als ich aber nach Jahr und Tag einmal selber das Buch mit unbefangenen Augen musterte, entdeckte ich, dass da von einem Bruch keine Spur war: dieser war nur durch meine eigene Seele gegangen! Bei der jüngsten Neuauflage nun, aus der besagtes Vorwort wegblieb, geschah das Sonderbare, dass die Kritik mich wegen der endlichen Entfernung des störenden »Bruches« belobte, in Wahrheit war jedoch der Text – fotografiert!
Die sieben Jahre zwischen dem Tode Edgars und dem letzten Zucken des Lämpchens sind die dunkelsten meines Lebens gewesen. Ein stetes Umherziehen von Pension zu Pension, von möblierter Wohnung zu möblierter Wohnung, von Italien nach Deutschland und umgekehrt. Das war noch ganz anders als zur Zeit, wo ich allein den Fluch des Unbehaustseins kostete, aber doch das liebste Haupt geborgen wusste. Jetzt konnte jede Schädlichkeit zum Verhängnis werden, jede schlecht gekochte Speise oder ein zu kaltes Zimmer. Es gab auch Häuser, wo man ein so gebrechliches Alter überhaupt nicht mehr aufnehmen wollte. Dann kamen die Krisen, wobei es jedes Mal die Frage war, ob das Herz die Stöße noch einmal überstehen würde. Es kamen die langen Nächte, wo ich neben ihrem Bette kniend in den verkrampftesten Stellungen ihren Puls hielt und ihre Atemzüge überwachte. Glücklich, wer das wachsende Leben betreut, sei es auch in Todesgefahr, aber wissen, dass es unabwendbar abwärts geht, dass jede Besserung nur ein kurzer Aufschub des Letzten sein kann, das ist auf die Länge schlimmer als das Letzte selbst. Meine Seele fror im Gedanken an den kalten Abgrund jenseits der Liebe, der mich erwartete. Ich war ja so einsam geworden, weil ich schon längst gar keine Zeit mehr hatte für andere Mitlebende. Einmal in Forte hatte ich einen Traum. Die Erde war ausgestorben, stumm, ohne Wärme, ohne Licht, ohne ein einziges grünes Hälmchen, ohne einen Vogellaut. Ich war der letzte Mensch auf dem vereisten Planeten; auf geneigter Fläche glitt ich über den ewigen Schnee hinab zwischen weißen Schneewänden, einsam wie es niemand je zuvor gewesen. Auch als sich noch ein anderes menschliches Wesen herzufand, dessen Gesicht mir nicht erkennbar war, änderte das nichts an meiner Einsamkeit. An dem völlig weißen Schneehimmel sah ich eine blasse, runde Scheibe, den Mond. Ich wollte mich freuen, dass er noch da sei, da rollte er sich wie ein Fladen zusammen und fiel in weißen Schneefetzen herunter. Jetzt ist auch der Mond gestorben, sagte ich hoffnungslos. Da öffnete sich in der Schneewand zu meiner Linken eine Nische wie ein Tabernakel, ein weibliches Bildnis bog sich bis zu halbem Leibe heraus – meine Mutter! Vom Übermaß der Erschütterung erwachte ich. Sie lebte damals noch und schlief im Nebenzimmer; ich konnte mir sagen, dass die Vereisung des Planeten noch einige Zeit für mich hinausgeschoben war. Aber festen Fuß fasste ich nicht mehr auf der Erde.
Und die Welt wurde leer und leerer. Wenn ein erster Verlust das Leben eines Menschen erschüttert, so scharen