Aber das letzte Ringen war furchtbar. Es war wie ein verzweifelter körperlicher Widerstand im Unbewussten gegen die hereinbrechende Übergewalt. Wie lange es noch dauerte, weiß ich nicht, ich hatte zuletzt die Zeitbegriffe verloren. Ihre in meinem Mutterbüchlein dargestellte letzte Lebenszeit ist die von ihr selbst gelebte, die schönere, denn sie sah ja nicht hinter die Kulisse, wo meine seelische und leibliche Not sich verbarg; die steten herzensbangen Nachtwachen, und dass ich kaum noch ins Freie oder zu warmer Nahrung kam, hatten mich gänzlich ausgeschöpft. Ich hatte am Ende keinen Blutstropfen mehr im Gesicht und kämpfte stündlich mit dem Schwindel. Ich musste fürchten selber bewusstlos niederzubrechen, in die Klinik gebracht zu werden und bei meiner Rückkunft den Platz neben mir leer zu finden. Da lockerte ich halb bewusst die gewaltige Willensanspannung, mit der ich sie noch immer hielt, damit ihr nicht das Schwerste zustieße, ohne mich ihren letzten Kampf auszukämpfen. Sobald ich aber wieder Kräfte fühlte, war es auch nur durch ein paar Stunden Schlaf, so suchte ich sie abermals auf das hinsterbende Leben zu übertragen. Doch das Spiel war am Ende. Nach einer schrecklichen Nacht, wo die Lebenskraft noch einmal gewaltsam durchbrach, dass sie sich in meinen Armen wand und rang, wie um sich das Irdische vom Leibe zu ziehen, kam der Augenblick, wo sie aus tiefem Morphiumschlaf in den ewigen hinüberschlief. Ich erlebte diesen Augenblick nicht mehr mit wachen Sinnen, denn ich lag selber im Betäubungsschlaf.
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Unter den Freunden, die meine arme Mutter in ihren letzten Monaten aufgerufen hatte, damit sie mir beistünden, war Einer, der dieses Rufes nicht bedurfte, weil er nie einen höheren Wunsch gekannt hatte als mir nahe zu sein: Ernst Mohl, der Freund meiner frühen Tübinger Tage. Er hing auch an meiner Mutter mit der tiefen Zärtlichkeit eines Sohnes. Seit vierzig Jahren in Russland lehrend, zuletzt als geadelter russischer Staatsrat an einer zarischen Hochschule in Petersburg, war er mit dem Herzen immer dem Gefühl seiner ersten Jugend treugeblieben, auch während wir in Italien lebend durch mehr als nur räumliche Ferne von ihm geschieden waren. Und er hatte schon lange mit seiner deutschrussischen Gattin, die seinem Herzenswunsch nicht entgegen sein wollte, verabredet, dass er, sobald seine für das Ruhegehalt nötige Dienstzeit abgelaufen wäre, den Abschied nehmen und mit ihr nach München ziehen würde, damit sie in einem gemeinsamen Haushalt mir die Sorgen des Alltags abnehmen und er sich mit mir in die Pflege der Mutter teilen könne. Unterdessen war er Witwer geworden, und als er erfuhr, wie es bei uns stand, säumte er nicht länger. Da er nur noch für sich selbst zu sorgen hatte, ließ er die größere Rente fahren, auf die er binnen kurzem Anspruch gehabt hätte, kündigte augenblicklich seinen Posten und löste seinen Haushalt auf, um mir zu Hilfe zu eilen und meine Mutter noch einmal zu sehen. Sie wusste, dass er über alle Hindernisse hinweg zu uns eilen würde, und dieses Wissen erleichterte ihr das Scheiden. Er kam gerade in ihrer letzten schweren Nacht und saß bis zum Morgen wartend, ob ich ihn riefe. Aber er sollte sie nicht mehr lebend sehen, denn ihr Geist war schon fern und hätte ihn nicht mehr erkannt.
In diesem Freund hatte mir das Schicksal einen Ausgleich für die Verluste und Enttäuschungen meines Lebens von lange her aufgespart. Aber ich konnte es noch nicht verstehen. Mein Inneres war für Leid und Freude tot, ich spürte nichts mehr als eine ungeheuere Leere. Ich glitt wie ein Schatten über den Erdboden hin, den meine Füße nicht mehr erreichten, weil ich mit der Wurzel herausgezogen war. Der Freund umsorgte mich aus zartgefühltem Abstand und wartete, wann er mir um ein Kleines mehr sein dürfte. Ein freundlicher Zufall hatte es gefügt, dass gerade bei seiner Ankunft aus Russland eine angenehme sonnige Wohnung im gleichen Hause, ein Stockwerk tiefer als die meinige, frei wurde. Diese bezog er und richtete sie ein mit dem Sinn für das Traulich-Häusliche, den er aus seinem heimischen Pfarrhaus mitgebracht und auch inmitten der sogenannten »Breiten Natur« des damaligen Russentums sich bewahrt hatte, – ein lieber Freundschaftswinkel für die kommenden Weltstürme. Aber damals glitt ich achtlos an allem vorüber. So sehe ich mich schattenhaft unbeteiligt neben teuren Freunden durch die Brunnenanlagen und Parkwege von Karlsbad wandeln, wohin sie mich vom Sterbehaus weggeholt hatten, sehe mich mit Erwin und seiner Familie die Felsenstufen von Stubbenkammer erklettern und auf der Spitze von Arkona dem Swantewit in seinem Tempel einen Besuch abstatten und wenige Wochen später mit einer Freizügigkeit, wie sie nur der genießt, der nirgends hingehört, über den Rollepass in dem Dolomitendorf San Martino di Castrozza einfahren. Dort wartete der italienische Freund auf mich, um gemeinsam ein paar Besteigungen auszuführen, wie sie mir früher schon einmal heilsam gewesen und von denen er annahm, dass sie mich wieder aus der Erstarrung erwecken müssten. Es kam auch so, dass in der ungeheuren Größe der Bergwelt, bei den kristallenen Wundergärten des Eises unter der herbstlich gemilderten Südsonne und im kalten Glanz der Sternennächte die in sieben schweren Notjahren tiefhinabgedrückten inneren Sprungfedern sich wieder aufrichteten und mich an der Umwelt teilnehmen ließen. Ich machte landschaftliche Aufzeichnungen für den vorlängst geplanten, aber nicht begonnenen Dolomitenroman »Der Caliban«, der danach noch lange Zeit im Limbo der Ungeborenen wohnen sollte. Und endlich sehe ich mich wieder in Forte in einer noch warmen Novembernacht damit beschäftigt, im Vorgarten meines Hauses einen Holzstoß aus harzduftenden Scheitern und prasselnden Lorbeerzweigen zu entzünden, damit der letzte unerfüllbare Herzenswunsch der Geschiedenen, dem geliebtesten ihrer Söhne in dem Land ihrer Liebe in die Flammen zu folgen, doch im Symbol noch erfüllt würde. Eine stille unvergessliche Feier, mit Vanzettis und des halbblinden Armando Hilfe aus dem Tiefsten ihrer eigenen Seele heraus für sie im Angesicht des rauschenden Meeres vollzogen und später mitten unter dem Schrecken des Weltkriegs zum bleibenden Gedächtnis in die fügsame Masse des Wortes geprägt.
Die starre Pania, Hochsitz der Gewitter,
Stand geisterhaft in ihres Marmors Glasten,
Es wetterleuchtete in der blauen Nacht
Um ihre Stirn, doch ihre Flanke trug
Zwei stille Feuer, große wache Augen,
Die niedersahen, Allerseelenfeuer.
Das Fest der Toten war’s. Auch wir entfachten
Die Lohe hell. Und was das Haus verbarg
An Heiligtümern, Hüllen der Verblassten,