Schön hatte auf der Heimfahrt von Trespiano Gräfin Gravina, die Stieftochter Richard Wagners, gegen mich geäußert, die Treue Vanzettis zu dem höher gearteten Freund habe sie stets an die des Kurvenal zu seinem Tristan erinnert. Es war in der Tat etwas wie mittelalterliche Mannentreue in diesem Freundschaftsbund, der weit über Edgars Tod hinaus bis zu seinem eigenen Hingang in dem Überlebenden fortdauerte und ihn zum Sohn und Bruder und väterlichen Berater sämtlicher verwaister Familienglieder machte.
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Als ich unsere Mutter von Edgars Leiche weg in meine Wohnung in der Via de’ Bardi führte, war ihr erstes Wort: Ich habe bisher für ihn gelebt, jetzt will ich für dich leben. – Und ich will ihn dir wieder lebendig machen, sagte ich. Ein Wort, dessen Vermessenheit, und in einem solchen Augenblick, jedem anderen Mutterherzen gegenüber bis zur Lächerlichkeit anmaßend gewesen wäre. Aber ich wusste ja, zu wem ich sprach, und dass bei der außerordentlichen Vergeistigungsfähigkeit des Empfindungslebens dieser Frau ein solches Wunder möglich war. –
Man muss schnell sein, bevor die Erinnerung blässer wird, wenn man dem Zerstörer den einzigen Teil seiner Beute wieder abnehmen will, den er der starken Beschwörung zurückgeben muss, das menschliche Bild. Sobald die leibliche Erscheinung verschwunden ist, erscheint dem Schauenden das ewige Angesicht, das zu Lebzeiten unter dem wechselnden Spiel des Tages verborgen war, und zugleich füllt sich der Luftraum mit einer seelischen Essenz, die das ganze Wesen des Dahingegangenen spürbar wie ein allerfeinstes Aroma enthält. Trunken von dieser Essenz schrieb ich gleich in den ersten Tagen einen längeren Nachruf in Rodenbergs »Deutsche Rundschau«, und dann schickte ich mich zu einem größeren Lebensbild an. Wiederum war ich die einzige, die diesen Liebesdienst leisten konnte, und ein solcher gehört auch zu den schönsten Aufgaben für eine berufene Feder. Zwar trug sich Vanzetti längere Zeit mit der Absicht, selber über den verstorbenen Freund zu schreiben, aber ich wusste wohl, dass er dazu völlig ungeeignet war, denn er war viel zu flüchtigen Geistes, um sich auf eine innere Aufgabe zusammenfassen zu können, und seine Feder war auch durch die damals noch in den italienischen Schulen gelehrte bombastische Rhetorik verdorben, sodass, was so lebensvoll und farbig wahr aus seinem Munde kam, geschrieben ungenießbar wurde. Unter den Freunden war es nur Hildebrand, der dem Verstorbenen einen zwar kurzen, aber sehr warmen und tiefverstehenden Nachruf widmete, und dessen Bruder Otto, der Berliner Chirurg, tat im wissenschaftlichen Sinn das gleiche. Was sonst geschrieben wurde, war zum größten Teile kläglich. Besonders vergrämte mich ein deutscher Zeitungsschreiber, der mit dem Verstorbenen beim Wein gesessen hatte und von seinem »derben Schwabenhumor« sprach. Ich machte bei dieser Gelegenheit die Wahrnehmung, wie leicht oberflächliche Federn in die Formelhaftigkeit eines stehenden Beiworts entgleisen: weil Edgar Schwabe war und humorbegabt, wurde ihm der berufene derbe Schwabenhumor zugesprochen. Aber in Wahrheit hatte Edgar bei den feingeistigen florentinischen Symposien gerade durch die unübertreffliche Feinheit seines Humors geglänzt. – Ein heiteres Beispiel seiner schlagenden Repliken war seine erste Begegnung mit dem Maler Albert Lang, der sich ihm vorstellte mit den Worten: Mein Name ist kurz, ich heiße Lang. Worauf Edgar a tempo: Mein Name ist auch nicht lang, ich heiße Kurz. – In ähnlich missverstandener Weise war mein Vater bedenkenlos in der Presse als »verknorrter Einsiedler« bezeichnet worden, und viele haben es nachgeschrieben, weil er Einsiedler war und solche verknorrt zu sein pflegen. Dem Lebenden können derartige Verzeichnungen nichts anhaben: er tritt herein, man sieht das Licht seiner Augen und das Lächeln seines Mundes und weiß, wen man vor sich hat. Aber an den Toten ist jedes Fehlgreifen eine Schädigung. Um so mehr tat es not, dass ich selber das Wort ergriff, im einen und im anderen Fall, um für meine Lieben zu zeugen.
Nun war vor allem Edgars schriftlicher Nachlass zu sichten, seine Tagebücher und die Gedichte, deren Zahl und Vortrefflichkeit mich in Erstaunen setzten. Mir waren eigentlich nur die »Gespensterlieder« bekannt, die er mir handschriftlich gewidmet hatte, köstliche Zeugnisse von der Feinheit seines Humors, und seine Übersetzung Toskanischer Volkslieder, die er mir hatte öffentlich zueignen wollen, was augenscheinlich an Empfindlichkeiten von anderer Seite scheiterte. Die Herausgabe dieser Lieder war seine letzte Freude gewesen, er sollte sie auf dem Sterbebette noch erleben. Es sind die gleichen Texte, die auch Heyse in seinem italienischen Liederbuch übersetzt hat. Dieser schrieb, seine eigene Übersetzung gefalle ihm besser, was ihm gewiss niemand verübeln konnte. Allein der in allen Sätteln gerechte Übersetzer hatte sich eine literarische Aufgabe gestellt: die klangschöne, nach Rhythmus und Wortsinn möglichst angenäherte Wiedergabe der italienischen Verse. Edgar suchte etwas völlig anderes. Die volkstümliche Naivität der toskanischen Lieder, die sich mit ihrer durchgehenden Getragenheit und gleichmäßigen Metrik doch nicht allzuweit von der Kunstsprache entfernen, wollte er in den wechselreicheren Ton des deutschen Volkslieds übertragen, wozu er durch mancherlei ihn überraschende Verwandtschaft des sprachlichen Ausdrucks angeregt wurde. So wie ein deutscher Volksdichter diesen Inhalt als Neuschöpfung behandelt hätte. Das sind zwei Möglichkeiten, eine literarische und eine volksmäßige, die beide ihre Berechtigung haben.
Die folgenden Wochen waren ausgefüllt von der Arbeit an dem Lebensbild des Verstorbenen, dass eigentlich gar keine Trauer aufkam: ich hatte ihn näher als er mir seit langen Jahren gewesen. Ich sah ihn, wie er neben mir aufgewachsen war, in zartester Jugend schon seine Begabung und seine Eigenheiten verratend, mit leidenschaftlicher Einseitigkeit auf Einen Punkt gespannt und ihn wieder verwerfend, wenn eine neue Stufe erstiegen war. Ich sah ihn als siebzehnjährigen Studenten der Philologie, als zwanzigjährigen Doktor der Medizin, zugleich in seiner Eigenschaft als Assistent an der Frauenklinik schon Lehrer im Fach der Gynäkologie, bei dem viel ältere Studierende hörten. Aus einem übermütigen Jugendtreiben