Ich hatte keine Zeit mich über das böse Schicksal eines meiner Lieblingskinder zu härmen, denn gleich setzte der kalte Sturmwind meines Lebens, der mich unaufhörlich in meinem Inferno umhertrieb, wieder ein. Wer je erfahren hat, was es heißt, an jedem Morgen beim Erwachen nach dem Nachbarbett hinüberzuhorchen, ob der geliebteste Mund noch atme oder ob die Stille, die eben von dort herüberweht, schon die letzte sei, wird mich verstehen.
So wurden die »Kinder der Lilith« die letzte größere Arbeit, die ich zu Lebzeiten meines Mütterleins fertigbrachte, abgesehen von den »Florentinischen Erinnerungen«, die ein Jahr später erschienen, aber zum größeren Teil schon früher in der glücklichen Via de’ Bardi geschrieben waren. Auch entstand noch ab und zu in Pausen der Krankheit etwas Kürzeres, aber ich war doch wie ein Schwimmer, der nur einen Arm gebrauchen kann, weil den anderen eine geliebte Last an der Bewegung hindert. Dass ich nur unter dem unmittelbaren Zwang der Eingebung schreiben konnte, machte jede gewollte Ausschlachtung der erlangten Gewandtheit, die notwendig den Druck des Augenblicks hätte zeigen müssen, unmöglich. Das war in jedem höheren Sinne mein Glück: »es hasset der sinnende Gott unzeitiges Wachstum«. Aber es stellte mein Dasein auf immer schmalere Basis, und kaum waren noch die Mittel dafür zu erschwingen. Nur dann und wann in ihrem letzten Lebensjahr gab es bei vorübergehendem Stillstand des Leidens, das, wie ich glaube, von den Ärzten nicht richtig gedeutet war, einen flüchtigen Freudenschimmer wie ein paar Goethetage in Weimar oder eine Dolomitenwanderung mit Weltrich. Das zeitigte schnell nacheinander zwei Novellen, die noch einmal aus dem Vollen geschöpft waren, der »Strahlende Held« und die »Allegria«. Dass ich sie ihr noch vorlesen durfte und sie damit in eine neue Jugendspannung zurückversetzen, war die letzte große Freude unseres Zusammenlebens. Von der »Allegria«, die sie an allerlei Miterlebtes erinnerte, wollte ich den Schluss nicht mehr lesen, weil es traurig ende. Ihre Antwort, das Traurige sei ja eben das Schöne, zeigte mir wieder einmal ganz, wie tief sie in allem Dichterischen zu Hause war.
Sie wohnte um jene Zeit bei Erwin in München und ich im Erdgeschoss eines Nachbarhauses, sodass ich immer zu ihr konnte und sie zu mir. Nur während ich an den zwei Novellen schrieb, brauchte ich mehr Zeit für mich. Das war ihr unnatürlich, denn es zog sie wie mit Ketten herüber; ihre klagenden Zettel die zu mir flogen zerrissen mir das Herz. Noch immer lief sie wie im Flug ihre drei hohen steilen Treppen herunter zu mir ins Nachbarhaus, sobald die vorübergehende Sperre aufgehoben wurde, und war jedes Mal früher da als verabredet. Ihr Morgenbesuch an meinem letzten Geburtstag, den sie erlebte, war das Rührendste was sich denken ließ. Sie hatte noch immer die Gewohnheit beibehalten, mich an diesem Tag mit einem brennenden Weihnachtsbäumchen aus dem Schlaf zu wecken. Das Bäumchen war im Lauf der Jahre kleiner und kleiner geworden, diesmal war es nur noch ein in den Topf gesetztes Tannenreis mit ein paar armen Wachslichtern darauf, aber in diesen brannte die ganze unendliche Liebe einer Mutter.
In dieser Zeit der abnehmenden Körperkraft muss sie die Erkenntnis mit Schrecken durchdrungen haben, in welcher Vereinsamung ich zurückblieb, nachdem ich alle die Jahre her, fast ganz vom Verkehr abgeschnitten und jeder anderen Bindung beraubt, nur noch für sie gelebt hatte. Ohne mein Wissen begann sie nach allen Seiten Briefe zu schreiben, die Vertrauenswertesten unter den Freunden auf mich zu vereidigen, um einen Schutzwall von Liebe und Treue um mich aufzurichten für die Zeit, wo sie nicht mehr sein würde. »Denke nicht mehr an mich, ich bin deine Vergangenheit«, schrieb sie einmal im letzten Herbst ihres Lebens, als ich mich vorübergehend bei einer Freundin auf dem Lande aufhielt. Was mag ihr ein solches Wort gekostet haben. Jene irrten, die mich nachmals ermahnten, ihr die so sehr ersehnte Ruhe zu gönnen: nur in der gefassten Stärke ihres Gedankens trug sie den Tod mit sich und äußerte sich so auch in Briefen, ihr Gefühl stieß ihn immer aus, denn solche Lebensfülle hat keine wahre Gemeinschaft mit dem Nichtmehrsein. Im Kreis der Enkel war sie noch immer die Jüngste und Lachendste. Und wenn Thole sie auf der Treppe traf, so pflegte er sie festzuhalten, damit sie »zur Schonung seiner Lunge« die Stufen langsamer nehme. Gegen das Frühjahr wurde eine Wohnung im Hause frei, die ich mietete und mit einigen geliehenen Möbelstücken ausstattete, denn mein eigener Hausrat moderte schon im siebten Jahr in dem Gartenpavillon, wo ich ihn bei Freunden in Florenz untergestellt hatte. In dieser Wohnung sollte sich das Letzte erfüllen. Die Frühjahrsstürme Münchens, die ihr so schrecklich waren, nahmen ihr durch die Wände hindurch den Atem, sie saß Nächte lang nach Luft ringend und ich sie im Arm haltend, ihr den Rücken reibend, ihr Sauerstoff zuführend. Das waren Jammernächte. Nun kam die Unruhe der Scheidenden über sie, vermischt mit dem Drang nach dem geliebten südlichen Land, wo sie dreiunddreißig Jahre lang gelebt hatte und wo drei ihrer Söhne schon den langen Schlaf schliefen. Dorthin wollte sie jetzt mit aller Kraft ihrer Seele, sich zu ihnen legen. Welches Fegefeuer eine solche Reise ins Sterben für mich gewesen wäre, stellte sie sich nicht vor; wir besaßen ja in Florenz keine Heimstatt mehr, und wo mag man Gäste aufnehmen, die mit solcher Aussicht kommen? Einzig Forte de’ Marmi konnte noch einmal das Reiseziel sein, aber auch nur, wenn der Strand von den Sommergästen bewohnt war und der ärztliche Freund uns nahe, denn sonst gab es keine Hilfe dort, und zu jener Zeit noch nicht einmal eine richtige Apotheke. Die Kranke musste sich also auf den Frühsommer vertrösten lassen, und ich begann auch wirklich noch einmal die vorläufigen Anstalten zu treffen. Ich hielt mich noch immer an dem Pakt, den ich mit dem Schicksal geschlossen hatte, fest: dass sie nicht sterben dürfe noch könne, solange ich mich mit meiner ganzen Seelenkraft dagegen zu setzen vermöchte. Es mag wie ein Wahnsinn klingen – vielleicht war in jenen Tagen