Beinahe wie eine Familie, dachte Thomas, der neben Bianca ging.
So ähnlich mochte das Madel wohl auch gedacht haben. Immer wieder sah es seinen Begleiter von der Seite her an, und zwischen ihnen schien die Luft zu knistern.
Schon bald nach dem Essen hatten sie sich darauf geeinigt, sich mit den Vornamen anzusprechen. Vor der Pension blieben sie stehen. Die Eltern folgten ein paar Schritte hinter ihnen.
»Also, Bianca, dann schlafen S’ gut«, sagte Thomas. »Und träumen S’ was Schönes.«
Sie lächelte.
»Das werd’ ich ganz bestimmt. Und Ihnen wünsch’ ich dasselbe, Thomas.«
Er drehte sich zu dem Ehepaar um.
»Vielen Dank für den schönen Abend«, sagte er. »Ich hab’ mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben.«
Er deutete zum Haus.
»Aber jetzt sollten wir leise hinaufgehen. Die anderen Gäste schlafen bestimmt schon alle.«
*
Die blonden Haare der jungen Frau flogen wie eine Löwenmähne im Fahrtwind des offenen Cabrios. Aus dem Radio klang laute Musik, und Iris Heilmann nickte im Takt mit dem Kopf.
Verkehrszeichen hatten für sie keine große Bedeutung, und auf jene, die die Geschwindigkeit beschränkten, achtete sie schon gar nicht.
Diese aggressive Fahrweise hatte ihr Punktekonto in der Flensburger Verkehrssünderkartei schon beträchtlich in die Höhe schießen lassen, doch das war Iris egal. Strafzettel zahlte sie ohnehin aus der Portokasse, und wenn das Geld mal knapp zu werden drohte, weil die Einkäufe doch mehr gekostet hatten als angenommen, dann mußte eben Papa ihr unter die Arme greifen.
Finanzielle Sorgen hatte die Tochter eines begüterten Rechtsanwalt jedenfalls nicht. Kam es wirklich einmal vor, daß ihr Vater Strenge zeigte, dann gelang es ihr garantiert, ihn rasch um den Finger zu wickeln – so, wie sie jeden um den Finger wickelte, von dem sie etwas wollte.
Bloß bei Thomas Brandmayr hatte es nicht geklappt. Nur zu gut spürte sie noch den Ärger, den sie empfunden hatte, als er sie zwei Tage zuvor versetzte. Als sie ihn nach über einer Stunde Wartezeit angerufen hatte und er ihr erklärte, er habe die Verabredung schlichtweg vergessen, da mußte sie an sich halten, um nicht loszubrüllen.
So etwas war ihr noch nie passiert. Eher war es so, daß sie mit den Männern spielte, sie warten ließ, bis sie vor Sehnsucht vergingen.
Nachdem sie dann das Gespräch abgebrochen hatte, war sie in dem Wirtshaus sitzengeblieben, hatte sich nicht um die Blicke der anderen Männer gekümmert, sondern darüber nachgedacht, ob sie Thomas einfach abschreiben sollte, oder ob es sich lohnte, am Ball zu bleiben. Schließlich entschied sie sich für Letzteres.
Schon auf der Party, auf der sie den Journalisten zum ersten Mal gesehen hatte, war sie von ihm fasziniert gewesen.
War es sein Aussehen? Die Art, wie er sprach? Oder die Tatsache, daß er der erste Mann war, der sie nicht gleich mit seinen Blicken auszog?
Vielleicht von jedem etwas. Jedenfalls war Iris Heilmann von ihm so angetan gewesen, daß sie von sich aus versuchte, eine Verabredung mit ihm zu treffen.
Sonst waren es immer die Männer, die sich mit ihr treffen wollten. Und Iris mußte zugeben, daß es ihr Spaß machte, so umworben zu werden.
Himmel, war das Leben schön, dachte sie immer wieder. Besonders wenn man so umwerfend gut aussah und Geld hatte, es zu genießen.
Nach der Schule hatte sie eigentlich eine Ausbildung zur Kauffrau machen wollen. Doch schon nach sechs Wochen war es damit vorbei. Das leichtlebige Mädchen merkte schnell, wie hart es war, jeden Morgen aufstehen zu müssen, wenn der Wecker klingelte, und zur Arbeit zu fahren. Iris schmiß die Lehre hin und verließ sich darauf, daß ihr Vater ja genug verdiente. Nach dem Tod der Mutter war sie ohnehin sein ein und alles. Und irgendwann würde sie sich einen reichen Mann angeln, der dann für sie sorgte.
Wozu also sollte sie sich mit solch profanen Dingen wie Preislisten und Bilanzen abgeben?
Sie saß also im Gasthof ›Zum Ochsen‹ und ärgerte sich über Thomas Brandmayr, und gleichzeitig spürte sie, daß es etwas an diesem Mann gab, das sie magisch anzog.
Sie mußte ihn haben, koste es, was es wolle!
Auf der Heimfahrt, Iris bewohnte ein eigenes Haus in der Altstadt, überlegte sie ihre weiteren Schritte.
In Urlaub wollte Thomas fahren. Gleich morgen früh. Wohin, hatte er allerdings nicht verraten. Aber es sollte nicht schwer sein, das herauszufinden. Iris kannte einen Kollegen des Journalisten, der ihr noch einen Gefallen schuldig war, seit sie ihn mit ihrem Vater bekanntgemacht hatte, als Rolf Neubauer eine Artikelserie über erfolgreiche Rechtsanwälte schreiben wollte.
Aber lohnte es sich wirklich, ihm hinterherzufahren?
Die halbe Nacht grübelte sie darüber nach, und den ganzen nächsten Tag. Schließlich kam die junge Frau zu dem Schluß, daß es immerhin einen Versuch wert war. Thomas würde bestimmt nicht damit rechnen, und in der lockeren Stimmung, in der man sich im Urlaub immer befand, würden sie sich bestimmt näherkommen.
Also hatte sie Rolf Neubauer angerufen und sich Thomas’ Urlaubsanschrift geben lassen, die er in der Redaktion hinterlegt hatte, und war, nachdem sie sich ausgeschlafen und lange gefrühstückt hatte, losgefahren.
Komisch, dachte sie, wie er wohl ausgerechnet auf dieses Dorf kommt?
Na egal, wahrscheinlich war das Nest so verschlafen, daß nicht die Gefahr bestand, dort Bekannte zu treffen, was unweigerlich eine Riesenparty nach sich gezogen hätte. Und daß es dort attraktive Frauen gab, die ihr Konkurrenz machen könnten, glaubte Iris Heilmann schon gar nicht.
Es war herrliches Wetter, Sonnenschein am blauen Himmel und keine einzige Wolke. Trotzdem blitzte es einen kurzen Moment vor ihr auf.
Eine Radarfalle, durchzuckte es sie heiß und kalt.
Dann zuckte sie die Schultern und fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Bis St. Johann waren es noch knapp vierzig Kilometer.
Ein Problem war es gewesen, auf die Schnelle ein Zimmer zu buchen. Die Finger hatte sie sich wundgewählt beim Telefonieren. Schließlich hatte sie ein Zimmer auf einem Bauernhof bekommen. Das war zwar nicht gerade die Unterkunft, in der sie sonst abstieg, aber Iris Heilmann hatte erst einmal zugestimmt. Wenn sie bei Thomas war, würde sie weitersehen. Vielleicht war ja noch Platz in seinem Zimmer.
Und dann würde sie schon dafür sorgen, daß dieser Urlaub unvergeßlich für ihn wurde…
*
Das Frühstück war grandios. Besonders auch, weil Ria Stubler den jungen Mann mit an den Tisch der Familie Lennard gesetzt hatte…
Der rührigen Pensionswirtin war es schon am Vortag aufgefallen, daß der sein Herz für das Madel entdeckt hatte, und auch Bianca schien aufzublühen, wenn Thomas Brandmayr in der Nähe war. Also hatte Ria beschlossen, ein wenig Schicksal zu spielen.
Franz Lennard machte gute Miene zum bösen Spiel. Zwar zog er einmal kurz die Augenbrauen hoch, als er den Frühstücksraum betrat und Thomas schon am Tisch sitzen sah. Aber der gute Eindruck vom vergangenen Abend wirkte noch nach, so daß er sich nach einem kurzen Gruß neben seine Frau setzte.
»Was machen wir denn heut’?« fragte Heidrun. »Bianca und Herr Brandmayr fahren zum Schwimmen. Hättest’ net Lust, die Kirche zu besichtigen?«
»Also, die sollten S’ sich auf jeden Fall anschauen«, warf Thomas ein. Die ist einmalig schön. Und wenn S’ den Herrn Pfarrer kennenlernen sollten, dann werden S’ staunen. Der ist gar net so wie andere Geistliche.«
Ria, die gerade frischen Kaffee an den Tisch