Der Geistliche beschloß, nach dem Mittagessen der Witwe Erbling einen Besuch abzustatten, vorher wollte er sich allerdings mit dem Doktor unterhalten. Vielleicht war die Sache ja auch ganz harmlos.
Da bis zum Mittagessen noch Zeit war, entschloß sich Sebastian, den Anruf, der ihm auf der Seele lag, sofort zu tätigen. Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Die Telefonnummer der Privatbank Bruckner fand er in dem Register. Er wählte und wartete gespannt ab. Es war die direkte Durchwahl, die ihn mit Hans Bruckner verband.
Schon nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben, und Sebastian vernahm die sonore Stimme des Bankiers.
»Grüß Gott, Herr Bruckner«, sagte er. »Pfarrer Trenker hier. Haben S’ einen Augenblick Zeit für mich?«
»Hochwürden!« rief Hans Bruckner. »Aber für Sie doch immer. Worum geht’s, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie wissen doch, Sie haben bei mir immer noch etwas gut.«
»Eigentlich ist es net meine Art, eine Dankesschuld einzufordern«, erklärte der Geistliche. »Aber in diesem besonderen Fall tue ich es doch. Allerdings geht’s weniger um mich als um eines meiner Pfarrkinder, das in große Not geraten ist. Ich sag’s Ihnen gleich, Herr Huber, es geht um viel Geld, und jeder Ihrer Kollegen würd’ Ihnen raten, die Finger von der Sache zu lassen. Wenn ich Sie dennoch darum bitte, dann, weil Sie der einzige sind, der überhaupt noch helfen kann.«
Ein langgezogener Schnaufer erklang aus dem Hörer.
»Na, nun mal heraus mit der Sprache«, sagte Hans Bruckner schließlich. »So schlimm wird’s schon net sein.«
»Schlimmer, als Sie ahnen«, entgegnete der Bergpfarrer und schilderte im einzelnen, worum es ging.
Der Privatbankier hörte schweigend zu und unterbrach den Geistlichen nicht ein einziges Mal. Als Sebastian geendet hatte, herrschte einen Moment Schweigen.
»Sie haben wirklich net übertrieben«, sagte Hans Bruckner schließlich. »Aber sei’s drum, ich muß mir ohnehin erst ein ganzes Bild machen, und dazu brauch’ ich Unterlagen. Am besten kommen S’ her und bringen den jungen Mann gleich mit.«
»Um solch einen Termin wollt’ ich Sie bitten«, antwortete Sebastian erleichtert. »Dann sehen S’ also vielleicht eine Chance?«
Wieder atmet der Bankier hörbar durch.
»Ich will Ihnen net verhehlen, daß es ein Risikogeschäft ist«, erklärte er. »Und jede and’re Bank würd’ es erst gar net zu einem persönlichen Gespräch kommen lassen. Aber ich sagte ja anfangs schon, daß Sie bei mir etwas gut haben. Außerdem, wenn Sie für den Bauern gutsagen, dann ist das schon mal eine wichtige Sicherheit.«
»Wie geht es Ihrer Frau?« fragte Sebastian Trenker.
»Danke, gut, Hochwürden. Seit dieser Geschichte ist alles anders geworden. Wir sind glücklich wie noch nie in unserem Leben.«
»Das freut mich.«
»Gut, dann würd’ ich vorschlagen, daß Sie und der Herr Pahlinger gleich morgen früh herkommen. Wie ich die Angelegenheit seh’, eilt’s ja wohl sehr.«
»Wunderbar, Herr Bruckner«, freute sich der Geistliche. »Haben S’ einstweilen vielen Dank.«
Sebastian legte den Hörer auf und lehnte sich zurück. In Gedanken ging er ein paar Jahre zurück, zu dem Tag, an dem er die Bekanntschaft von Eleonore Bruckner gemacht hatte…
Eigentlich war es eine dunkle, stürmische Nacht gewesen. Seit Tagen regnete es, und das gute Wetter schien das kleine Dorf in den Alpen vergessen zu haben.
Kurz vor dem Schlafengehen war Sebastian noch einmal zur Kirche hinübergegangen und hatte sie gefunden.
Die attraktive Frau, Ende vierzig und elegant gekleidet, saß vor dem Altar auf der Bank, und die Tränenspuren in ihrem Gesicht sprachen für sich.
Eleonore Bruckner stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Es war Toni Wiesinger, dem jungen Dorfarzt, zu verdanken, daß sie wieder auf die Beine kam, und den anschließenden Wochen, die die Frau im Pfarrhaus, in der Obhut Pfarrer Trenkers und seiner Haushälterin, verbrachte.
Der Geistliche ließ ihr Zeit und drängte sie nicht, doch irgendwann kam Eleonore von selbst aus sich heraus.
Die attraktive Bankiersfrau lebte in ihrem goldenen Käfig. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf Kaffeekränzchen und Wohltätigkeitsveranstaltungen, gelegentlichen Abschläge auf dem Golfplatz oder den Besuch einer Modenschau. Im Grunde war sie nur das glänzende Prunkstück, das ihr Mann zum Vorzeigen brauchte. Als Eleonore dahinterkam, daß Hans Bruckner sie mit einer anderen betrog, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Frau brach aus der Ehe aus, Tabletten verschlimmerten ihren seelischen Zustand nur noch, und es war ihre Rettung, daß das Schicksal sie ausgerechnet nach St. Johann verschlug, wo sie Aufnahme und Verständnis durch Sebastian Trenker fand.
Der Geistliche nahm sich Zeit und führte unendlich viele Gespräche mit der unglücklichen Frau, und schließlich suchte er den Privatbankier in dessen Villa auf, und dieser Besuch änderte das Leben, das Hans Bruckner bisher geführt hatte.
Es brauchte Zeit und ging nicht von heute auf morgen, bis die Eheleute wieder zueinander fanden, doch das Unmögliche gelang, und am Ende hatte der Bergpfarrer es durch seinen unermüdlichen Einsatz geschafft, daß das Glück wieder in die Familie Bruckner einzog.
Die Haustür ging und weckte Sebastian aus seinen Erinnerungen. Max kam zum Mittagessen, und der Geistliche erhob sich aus seinem Sessel.
Damals hatte er die Hürde geschafft, wie so viele in seinem Leben. Diese, die nun vor ihm lag, schien nicht mehr allzu hoch angelegt zu sein. Sie sollte ebenfalls zu überspringen sein.
Indes ahnte der gute Hirte von St. Johann, daß es vielleicht doch nicht ganz so einfach war, wie er hoffte.
*
Kathrin hatte zwei große Stücke von der Erdbeertorte abgeschnitten, auf einen Teller gelegt und eingepackt. Jetzt kochte sie Kaffee und füllte ihn in eine Thermoskanne. Anschließend lief sie in ihre Kammer und zog sich um. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel, während sie das dunkle Haar bürstete. Manchmal war sie mit ihrem Aussehen nicht zufrieden – obwohl sie keinen Grund hatte, sich darüber zu beklagen –, doch heute schien ihr alles in Ordnung. Sie legte die Bürste beiseite und öffnete das Schmuckkästchen. Ketten und Ringe lagen darin, ein paar Ohranhänger. Vieles davon hatte sie von der Mutter geerbt, aber selten getragen. Kathrin suchte ein goldenes Kettchen heraus, mit einem Anhänger. Es war eine runde Scheibe, mit einem Diamantsplitter in der Mitte, und drum herum waren zwei Namen eingraviert: Kathrin und Wolfgang, dazu ein Datum. Den des Tages, an dem sie sich den ersten Kuß gegeben hatten.
Die Kette war ein Geschenk von Wolfgang, zu Kathrins Geburtstag im letzten Jahr. Sie hatte sich mehr darüber gefreut, als über alle anderen Geschenke. Doch nachdem Wolfgang die Beziehung beendet hatte, legte sie die Kette ab und wollte sie nie wieder tragen.
Die Bauerntochter eilte die Treppe hinunter. Ria war mit dem Mittagessen zum Bergwald unterwegs, deshalb sperrte Kathrin die Haustür zu, warf dem Hofhund noch einen Knochen vom Mittagessen zu und stellte den Korb in ihr kleines Auto.