Es befand sich in einem Anbau, direkt hinter der Scheune, und auf den ersten Blick machte es den Eindruck eines Gewächshauses. Tatsächlich hatte Ingo für den Bau ein altes Gewächshaus der Gärtnerei in St. Johann Stück für Stück abgetragen und hier heraufgeschafft. Jetzt war es eine lichtdurchflutete Arbeitsstätte, in dem sich Bilder stapelten, Regale mit Farbtöpfen und Tuben standen, und Pinsel in den unterschiedlichsten Ausführungen lagen. Es roch nach Farbe und Lösungsmitteln, und wäre ein Besucher gekommen, so hätte er auf ein Chaos geblickt, in dem es scheinbar keine Ordnung gab.
Es gab schon eine Ordnung in diesem Durcheinander, die allerdings nur Ingo Bruckner bekannt war, und Besucher kamen ohnehin nie herauf. Mit einer Ausnahme vielleicht – Pfarrer Trenker schaute hin und wieder nach dem jungen Künstler und erkundigte sich nach Ingos Befinden.
Nachdem er die Sachen im Atelier abgestellt hatte, ging der junge Bursche ins Haus hinüber. Er bewohnte eigentlich nur das Wohnzimmer, in dem eine Bettcouch stand, auf der er schlief. Nach dem Tode der Eltern, die kurz nacheinander gestorben waren, hatte Ingo Bruckner keine Lust verspürt, weiterhin als Bauer zu arbeiten. Schon immer hatte er gerne gezeichnet und gemalt und nun konnte er seinen Neigungen freien Lauf lassen. Das Vieh wurde verkauft, die Felder und der Bergwald an den Bruder seiner Mutter verpachtet, und von den Einnahmen konnte er ganz gut leben und sich ganz der Malerei widmen.
Er hatte es noch nicht einmal nötig, seine Bilder zu verkaufen, und dieser Umstand machte ihn im Kreise seiner Verwandten zu einem Sonderling. Allerdings war es Ingo Bruckner egal, was sie von ihm dachten. Er war glücklich, wie er lebte, und hätte mit niemandem tauschen mögen.
Nachdem er sich in der Küche ein belegtes Brot gemacht hatte – er kochte fast nie etwas für sich –, ging er ins Atelier zurück Auf einer Staffelei stand eine bemalte Leinwand. Ingo begutachtete kritisch sein Werk. Das Bild stellte einen Ozean dar, auf dem eine geöffnete Muschel schwamm, der gerade eine leicht bekleidete Frau entstieg. Die Anlehnung an das Gemälde ›Geburt der Venus‹, des Renaissancemalers Sandro Botticelli, war unverkennbar, und doch hatte dieses kleine Kunstwerk eine ganz eigene Aussagekraft.
Drei Monate hatte Ingo daran gearbeitet, seit einem halben Jahr stand es hier und trocknete. Der junge Maler war zufrieden. Dieses Bild würde eines der wenigen sein, die das Atelier verließen. Es sollte sein Hochzeitsgeschenk für Christel und Tobias sein.
*
»Bis zum nächsten Mal«, verabschiedete sich Sebastian Trenker von dem alten Senner. »Und dank’ schön, für den Käs’.«
»Grüßen S’ die Frau Tappert recht schön und den Max«, sagte Franz Thurecker und gab dem Bergpfarrer die Hand.
Schon in aller Herrgottsfrühe war der gute Hirte von St. Johann zu seiner Tour aufgebrochen, und es hatte bis zum Mittag gedauert, ehe er sein Ziel, die Kandererhütte, erreichte. Dort hatte reger Betrieb geherrscht. Zahlreiche Wanderer saßen auf der Sonnenterrasse und ließen sich schmecken, was der Franz ihnen auftischte. Der Senner, der die meiste Zeit des Jahres hier oben lebte, war für seine herzhafte Hausmannskost weithin bekannt, und entsprechend groß war der Andrang der Gäste, an solch einem herrlichen Sonnentag.
Unkompliziert, wie er nun einmal war, hatte Sebastian Trenker seinen Rucksack abgeschnallt, die Ärmel hochgekrempelt und mit angepackt. Als hätte er sein Lebtag nichts anderes gemacht, zapfte er Bier, schenkte Limonade ein und servierte Geschnetzeltes, Käsespatzen und Eintopf.
Nachdem die Besucher zufriedengestellt waren, aßen der Geistliche und Franz Thurecker selbst. Dabei unterhielten sie sich über das, was seit Pfarrer Trenkers letztem Besuch im Dorf passiert war. Der Senner war immer auf solche Nachrichten angewiesen, denn außer in der Winterpause, in der er in St. Johann lebte, hörte Franz Neuigkeiten nur, wenn ein Knecht der Bauern, denen die Kühe hier oben gehörten, heraufkam und den fertigen Käse abholte, oder eben der Bergpfarrer zu Besuch kam.
Und Sebastian kam gerne herauf. Er schätzte den Alten, der auch ein hervorragender Käsespezialist war, und die beiden Männer konnten sich stundenlang unterhalten.
Heute hatte der Besuch allerdings noch einen anderen Grund; Sebastian überbrachte eine Einladung zur Hochzeit.
»Ich weiß net«, meinte Franz Thurecker zweifelnd, »da muß ich ja einen ganzen Tag die Viecher allein’ lassen. Wer soll sich denn da um alles kümmern?«
»Ein Tag wird net reichen«, erwiderte der Pfarrer schmunzelnd. »Mit zwei Tagen wirst’ schon rechnen müssen. Nach der Feier wirst kaum noch wieder hier herauf wollen. Auf dem Brennerhof haben s’ bestimmt eine Kammer für dich, in der du über Nacht bleiben kannst.«
Franz war immer noch skeptisch.
»Und was ist mit den Kühen?« wollte er wissen. »Die müssen doch gemolken werden.«
»Alles schon geregelt«, antwortete Sebastian. »Der Wolfgang Umgelter hat sich bereit erklärt, hier auszuhelfen, solang’ du auf der Hochzeitsfeier bist.«
»Ach, der Wolfgang. Das ist natürlich was anderes«, meinte Franz. »Na ja, da werd’ ich wohl kaum absagen können.«
Wolfgang Umgelter war Knecht auf dem Tannenhof. Sein Bauer hatte ebenfalls Kühe in Franz’ Obhut gegeben. Der Senner kannte Wolfgang schon lange. Einige Male hatte der Knecht schon bei ihm hier oben ausgeholfen und von Franz die Kunst des Käsens gelernt.
»Außerdem legt die Christel großen Wert auf dein Kommen«, erklärte der Seelsorger. »Das hat sie extra gesagt.«
» Ach ja, irgendwie freu’ ich mich auch über die Einladung«, sagte Franz. »Immerhin sind der Fritz und ich ja auch über drei Ecken verwandt.«
»Dann kann ich also ausrichten, daß die Christel und der Tobias mit deinem Erscheinen rechnen können?«
Der Senner nickte. »Bloß, daß der Wolfgang pünktlich ist.«
»Das wird er«, lachte Sebastian. »Die Hochzeit ist am Freitag, also übermorgen. Morgen nachmittag bringt der Hubert Wolfgang herauf, und du kannst dann gleich mit ihm wieder hinunterfahren. Er setzt dich dann beim Brennerhof ab.«
»Das ist ja alles bestens organisiert«, freute sich Franz. »Fehlt bloß noch ein Geschenk.«
Aber auch da wußte der Bergpfarrer Rat.
»Du hast doch eine ganze Menge Figuren in der Hütte stehen«, meinte er. »Ich hab’ da vorhin eine Madonna gesehen. Das wär’ doch ein wunderschönes Geschenk. Ich bin sicher, daß die beiden sich darüber freuen werden.«
Während er ins Tal abstieg, dachte Sebastian an die bevorstehende Hochzeit. Er freute sich, daß Christel und Tobias sich zu diesem Schritt entschlossen hatten. Die beiden paßten wunderbar zusammen.
Endlich einmal schien ein Paar zusammengefunden zu haben, ohne daß es Komplikationen gegeben hatte. Ein äußerst seltener Umstand im Leben des guten Hirten von St. Johann.
Als Sebastian dieser Gedanke durch den Kopf ging, da ahnte er noch nicht, daß die nächsten Tage keineswegs so problemlos verlaufen würden, wie er glaubte…
*
Der Mann in den abgerissenen Kleidern umrundete das Pfarrhaus nun schon zum dritten Mal. Unsicher blickten seine Augen auf die Fenster und die Eingangstür, und immer wieder stockten seine Schritte, wenn er sich endlich dazu durchgerungen hatte, den schmalen Weg von der Pforte bis zum Haus zu gehen.
Und wenn der Herr Pfarrer nun doch net so freundlich ist, wie der Karl gesagt hat, überlegte Joseph Mooser, dann wirft er mich womöglich achtkantig hinaus.
Der Mooser-Sepp, wie er bei seinen Kollegen genannt wurde, lebte schon seit geraumer Zeit auf der Straße. Nach Arbeitslosigkeit, der elenden Trinkerei und Scheidung von der Frau, hatte er jeden Halt verloren und war bis auf die letzte Stufen der sozialen Leiter gerutscht. Er glaubte nicht, daß sich in diesem Leben noch etwas daran ändern würde, und hatte sich mit seinem Dasein abgefunden.
Allerdings war es kein leichtes Leben. Immer war man auf das Mitleid anderer angewiesen, und wenn es auch im Sommer nicht weiter schlimm war, im Freien zu schlafen,