Der Fotograf schnappte überrascht nach Luft.
»Glauben Sie, Anja ist zu ihm zurück…?«
»Nein«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Jedenfalls net freiwillig.«
Er erzählte von der kurzen Unterhaltung, die Anja mit Carsten gehabt hatte, und daß er selbst mit dem Mann hatte reden wollen, um zu erfahren, was er eigentlich wollte.
»Die Tatsache, daß er plötzlich verschwand, hätte mich eigentlich stutzig machen müssen«, fuhr Sebastian fort. »Jetzt, wo Anja auch fort ist, kann das nur bedeuten, daß Carsten Winter sie unter einem Vorwand in den Bus gelockt und – entführt hat!«
Florian sank auf einen Stuhl.
»Glauben Sie das wirklich?« fragte er tonlos. »Oder kann es sein, daß sie freiwillig…?«
»Nein«, widersprach der Bergpfarrer nachdrücklich.
»Dieser Mann hat Anja so enttäuscht und sie in ihrer schwersten Stunde alleine gelassen. Sie empfindet nichts mehr für ihn. Aber sie liebt Sie, Florian, davon bin ich überzeugt. Selbst wenn sie freiwillig mit diesem Mann mitgefahren wäre, aus irgendeinem Grund, den wir net kennen, so würde Anja das niemals getan haben, ohne vorher mit Ihnen darüber zu sprechen.«
»Aber warum hat sie mir denn überhaupt verschwiegen, daß dieser Kerl hier aufgetaucht ist und mit ihr gesprochen hat?« fragte er zweifelnd.
»Vermutlich, weil die Sache für sie beendet ist«, meinte der Geistliche. »Und weil Anja Sie net damit belasten wollte.«
»Aber dann müssen wir ihnen doch hinterher«, rief Florian. »Wer weiß, was dieser Kerl ihr antut!«
»Ich glaub’ net, daß wir in dieser Hinsicht etwas befürchten müssen«, sagte Sebastian. »Aber natürlich haben S’ recht, wir werden ihnen nachfahren.«
Der Bergpfarrer bedauerte, daß Max und Claudia noch nicht von ihrem Kurzurlaub zurückgekehrt waren. Der Polizeibeamte wäre eine gute Verstärkung gewesen.
»Was glauben S’ denn, wohin sie sind?« fragte Florian, als sie in seinen Wagen stiegen.
»Ich denk’, sie werden in Richtung Regensburg unterwegs sein«, antwortete Sebastian. »Schließlich stammen s’ ja von daher.«
»Wenn ich den Kerl erwisch’…« sagte der Fotograf drohend.
Allerdings führte er nicht weiter aus, was er dann zu tun gedachte.
Sie fuhren los und hatten bald die Bundesstraße erreicht, die die Kreisstadt umrundete und später bis zur Autobahn führte. Florian fuhr zwar schnell, aber umsichtig. Auch wenn er um Anja in Sorge war, so wußte er doch genau, daß eine leichtsinnige Fahrweise alles gefährden konnte.
»Wieviel Vorsprung mögen sie wohl haben?« fragte er nach einer Weile.
Sebastian schaute auf die Uhr und rechnete zurück, wann die junge Frau das Pfarrhaus verlassen hatte.
»Net viel mehr als eine Stunde«, meinte er.
»Kann’s denn sein, daß sie schon so weit gekommen sind?«
Florian deutete auf ein Hinweisschild, das die Zufahrt zur Autobahn in ein paar Kilometern ankündigte.
»Wir sind schon gleich auf der Autobahn. Entweder fährt der Bursche wie ein Verrückter, oder wir haben net aufgepaßt und sie schon überholt.«
»Das kann net sein«, schüttelte der Bergpfarrer den Kopf. »Da waren ja kaum and’re Wagen vor uns. Und so schnell kann er mit dem Campingbus net fahren. Das glaub’ ich net.«
Der Fotograf verringerte das Tempo und fuhr schließlich an den Straßenrand.
»Dann kann das nur bedeuten, daß wir auf der falschen Spur sind«, stellte er fest.
Sebastian Trenker fuhr sich nachdenklich über das Kinn.
»Fahren S’ erstmal weiter«, sagte er schließlich. »Ein paar Kilometer über die Autobahn. Ihr Wagen ist schneller als der Bus. Selbst wenn Carsten Winter uns voraus ist, werden wir ihn früher oder später einholen. Sollte das net der Fall sein, dann müssen wir im weiteren Umkreis von St. Johann suchen. Aber das wird net ohne Hilfe geh’n.«
*
»Bitte, Carsten, fahr’ zurück«, bat Anja eindringlich. »Was willst’ denn damit bezwecken, daß du mich entführst?«
Er fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter und drehte den Kopf. Anja hatte sich inzwischen angeschnallt. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, bei dieser Fahrweise durch den Campingbus geschleudert zu werden.
»Entführen! Ist das net ein viel zu großes Wort?« lachte er hämisch. »Ich kümmer’ mich doch bloß um meine Verlobte. Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe. Das kann man doch net als Entführung bezeichnen.«
»So? Wie würdest du es dann nennen, daß du mich gegen meinen Willen verschleppst?« fragte sie wütend.
»Außerdem sind wir net verlobt. Ich hab’ zwar oft davon geredet, daß ich heiraten möchte und eine richtige Familie gründen. Aber davon hast du ja nie was wissen wollen.«
Carsten sah sie durch den Rückspiegel an und grinste.
»Inzwischen hab’ ich meine Meinung geändert«, sagte er. »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir verheiratet zu sein und Kinder zu haben.«
Anja verdrehte die Augen.
Ja, das glaubte sie ihm sogar. Wahrscheinlich hatte seine Meinungsänderung etwas mit der Erbschaft zu tun.
Überhaupt die Erbschaft!
In den letzte Minuten war sie überhaupt nicht mehr dazu gekommen sich zu fragen, was es wohl damit auf sich hatte. Sie erinnerte sich nicht einmal an den Namen dieses Großonkels. Aber das war im Moment auch alles zweitrangig. Jetzt mußte sie Carsten dazu bringen, daß er sie frei ließ.
Doch es sah ganz und gar nicht danach aus, als wenn er ihrer Bitte Folge leisten würde. Im Gegenteil, er trat das Gaspedal noch mehr durch, überholte ein anderes Auto und entfernte sich immer weiter von St. Johann.
Anja schaute aus dem Fenster. Rechts war Wald, auf der linken Seite konnte sie die Berge in der Abenddämmerung sehen.
»Was ist das denn?« hörte sie Carsten nun plötzlich ärgerlich fragen.
Sie schaute nach vorne und sah, daß er vergeblich versuchte, in einen anderen Gang zu schalten. Der Bus war merklich langsamer geworden, und der Motor machte merkwürdige Geräusche.
Hoffentlich fällt die Kiste auseinander, dachte Anja grimmig.
Carsten Winter fluchte vor sich hin. Irgendwas stimmte nicht, der Motor stotterte plötzlich, und der Bus bewegte sich nur noch ruckelnd vorwärts.
Er schaute in den Rückspiegel, die Straße hinter ihm war leer. Carsten lenkte den Wagen an die Seite. Ein paar Meter vor ihm führte ein Weg in den Wald hinein. Langsam rollte der Campingbus weiter.
Noch ein bissel, stöhnte Carsten innerlich, weg von der Straße.
Er bog auf den Weg ein und gab noch einmal ordentlich Gas. Der Motor heulte auf, wie mit letzter Kraftanstrengung, dann beschleunigte der Bus sogar noch einmal und schoß über den Waldweg, bis er holpernd stehen blieb, und der Motor erstarb.
Carsten starrte ungläubig auf die Anzeige – das Öllämpchen blinkte und leuchtete rot auf. Und im selben Moment wußte er, daß der Motor hinüber war.
Kolbenfresser!
»Verdammt!«
Carsten Winter hieb wütend auf das Lenkrad. Das hatte ihm gerade noch gefehlt!
»Was ist denn?« fragte Anja von hinten.
Ihrer Stimme war ein gewisses Frohlocken zu entnehmen.
»Was ist?« fragte er und drehte sich um. »Der Bus