»Denk’ net, daß du abhauen kannst«, sagte er mit einem drohenden Unterton. »Unsere Geschichte geht weiter, und du wirst sehen, sie endet wie im Märchen. Wir werden ein herrliches Leben führen, wenn die Erbschaft erstmal ausgezahlt ist.«
Anja sah ihn verzweifelt an. Carsten hatte von irgendwoher einen Strick genommen und fesselte damit ihre Hände und Füße. Das Ende band er an dem Gestell des Tisches fest.
»Damit du mir net auf dumme Gedanken kommst«, höhnte er. »Leider hab’ ich nix an Bord, was ich dir anbieten könnt’. Das letzte Wasser hab’ ich getrunken, als ich euch heut’ gefolgt bin. Übrigens eine hübsche Gegend, da drüben in Österreich. Vielleicht sollten wir unsere Hochzeitreise dahin machen.«
Anja wurde ganz übel bei dem Gedanken, daß Carsten ihr und Florian gefolgt war und sie beobachtet hatte.
»Wenn’s nur das Geld ist, um das es dir geht – von mir aus kannst du’s haben«, bot sie in ihrer Verzweiflung an.
Er schüttelte den Kopf.
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Soll ich vielleicht zu dem Anwalt fahren und sagen: Guten Tag, ich bin Carsten Winter, Frau Weilander hat mir ihr Erbe abgetreten?«
Er öffnete die Wagentür.
»Wo willst du denn hin?« fragte Anja ängstlich.
»Sehen, ob ich hier irgendwo was zu trinken auftreiben kann. Keine Angst, ich komm’ schon wieder.«
Damit schob er die Tür zu und verschwand in der Dämmerung.
*
Nachdem sie ein paar Kilometer auf der Autobahn zurückgelegt hatten, kehrten sie wieder um. Sie hätten den Campingbus längst überholen müssen, wenn er wirklich vor ihnen gewesen wäre.
»Was machen wir denn jetzt?« fragte Florian verzweifelt, als sie wieder auf der Bundesstraße, in Richtung St. Johann fuhren.
»Erst einmal einen kühlen Kopf bewahren«, antwortete Sebastian.
Er überlegte, wie er an Carsten Winters Stelle gehandelt hätte. Am sichersten wäre es doch gewesen, auf dem schnellsten Wege nach Regensburg zurückzukehren. Doch offenbar hatte der Mann sich anders entschieden.
Oder er war zu dieser anderen Entscheidung gezwungen worden…
Aber aus welchem Grund?
Überhaupt war es dem Bergpfarrer schleierhaft, welche Beweggründe er für sein Handeln hatte. Nachdem er sich monatelang nicht um Anja kümmert, steht er plötzlich da und präsentierte sich als liebender und sich sorgender Freund.
Irgendwas an der Sache war merkwürdig!
Sie hatten die Kreisstadt umfahren und befanden sich auf der Landstraße.
»Ich werd’ mich erstmal mit dem Beamten in Verbindung setzen, der den Max im Moment noch vertritt«, erklärte Sebastian. »Der wird eine Fahndung in die Wege leiten. Irgendwo muß der Bus ja sein. Er kann ja net einfach von der Bildfläche verschwinden.«
»Es sei denn, der Kerl versteckt sich irgendwo«, gab Florian zu bedenken.
Anfangs war der Fotograf voller Sorge um die geliebte Frau gewesen. Doch inzwischen hatte er sich beruhigt und überlegte nüchtern und kühl. Sebastian hatte ihm erklärt, daß Anja wohl keine Gefahr seitens ihres früheren Freundes drohe. Wenn Carsten Winter tatsächlich Arges im Schilde führte, würde er sie nicht entführen müssen.
Der Bergpfarrer hatte ihm erzählt, was er über die Beziehung und deren Ende von Anja erfahren hatte. Florian sah auch ein, daß der Mann etwas mit dieser Entführung bezwecken mußte, für Anjas Leben aber nichts zu befürchten war.
»Da vorn’ steht ein Anhalter«, sagte er plötzlich, als er die Gestalt am Straßenrand sah, die den rechten Daumen in die Höhe gestreckt hielt.
Sebastian kurbelte die Seitenscheibe herunter.
»Guten Abend«, grüßte der Mann. »Könnten S’ mich ein Stück mitnehmen? Ich hatte eine Panne, mit meinem Wohnmobil.«
Er hielt eine Tüte in die Höhe.
»Der Motor ist wohl hinüber. Aber wenigstens etwas zu trinken konnte ich besorgen. Es wär’ nett, wenn ich mitfahren könnt’. Meine Frau wird schon durstig auf mich warten.«
Sebastian und Florian sahen sich entgeistert an. Dann schüttelte der Bergpfarrer unmerklich den Kopf.
»Steigen S’ nur ein«, forderte er den Mann auf. »Wo stehen S’ denn mit Ihrem Campingbus?«
»Ich konnt’ ihn gerad’ noch in einen Waldweg fahren«, antwortete Carsten Winter erleichtert und setzte sich nach hinten.
Er mußte einige Kilometer laufen, ehe er an ein einsam gelegenes Gasthaus kam. Dort hatte er erstmal ein Bier getrunken und dann zwei Flaschen Mineralwasser gekauft. Die Wirtschaft verfügte auch über Fremdenzimmer, und die Aussicht, die Nacht nicht im Bus verbringen zu müssen, war verlockend. Aber er konnte das Risiko nicht eingehen. Anja hierher zu bringen. Als er auf dem Rückweg war, hoffte er inständig, daß ihm ein Auto begegnete, und der Fahrer ihn mitnehmen würde. Einige Male reckte er vergeblich den Daumen, doch dann hatte er Glück.
»Das ist wirklich sehr freundlich«, bedankte er sich noch einmal.
Zehn Minuten später hatten sie die Stelle erreicht.
»Da vorn’ ist’s gleich«, sagte er. »Vielen Dank.«
Während er ausstieg, sah Florian Sebastian fragend an. Auf der Fahrt hierher hatten sie kein Wort gesprochen.
»Fahren S’ weiter«, sagte der Bergpfarrer.
»Aber das ist doch der Kerl!« zischte der Fotograf und sah dem Mann hinterher, wie er im Wald verschwand.
»Vielleicht«, antwortete Sebastian. »Vielleicht auch net. Jedenfalls soll er keinen Verdacht schöpfen. Also, erst ein Stück weg von hier.«
Nach einem Kilometer dirigierte er Florian zu einer Seitenstraße.
»Kommen S’, hier steigen wir aus.«
»Und dann?«
»Dann schlagen wir einen Bogen und nehmen den Herrn mal ein bissel näher im Augenschein«, antwortete der Geistliche.
Inzwischen war es dunkel geworden, aber der Himmel war klar, und der Mond beleuchtete den Weg vor ihnen. Die beiden Männer liefen durch den Wald, immer am Straßenrand entlang, und kamen schließlich zu einer Lichtung. Sie hatten einen großen Bogen geschlagen, und Florian hätte nicht mehr gewußt, wie er von hier aus zu seinem Wagen zurückgekommen wäre.
Anders Sebastian Trenker, der genau wußte, wo sie sich befanden. Er war stehengeblieben und deutete auf den Wald vor ihnen.
»Zwischen den Kiefern führt ein Weg wieder zur Straße«, erklärte er. »Und auf genau diesem Weg muß der Bus stehen.«
»Dann los«, rief der Fotograf. »Worauf warten wir noch?«
»Aber leise«, ermahnte Sebastian ihn. »Der Herr Winter soll net zu früh von unserem Kommen erfahren.«
Im Schein des Mondlichts, das durch die Bäume fiel, sahen sie den Campingbus stehen. Im Innern brannte Licht, zwei schattenhafte Gestalten waren zu erkennen.
»Das sind sie«, sagte Florian gedämpft. »Was machen wir denn jetzt?«
»Ich geh’ von hinten heran. Sie schleichen sich dann seitwärts. Auf mein Zeichen kommen S’ sofort heraus.«
Florian nickte und schlug sich in die Büsche. Geduckt lief er bis auf ein paar Meter an den Bus heran und spähte aufmerksam hinüber. Ohnmächtige Wut überkam ihn, als er Carsten Winter sah.
Sebastian war auf der anderen Seite hinter den Bus geschlichen. Jetzt richtete er sich auf und winkte. Weder Anja, noch Carsten hatten etwas bemerkt. Erst als der Geistliche an die