»Du, ich glaub’, ich hab’ da einen großen Bock geschossen«, gab er sich zerknirscht. »Ich weiß net, ob du gehört hast, was da zwischen Anja und mir vorgefallen ist…«
Er schaute betroffen zu Boden.
Frauke zuckte gleichmütig die Schultern.
»Ich weiß davon«, erwiderte sie kühl. »Ich hab’ Anja in der Klinik besucht. Sie hat mir alles erzählt. Und was willst du jetzt von mir?«
»Bitte, Frauke«, sagte er flehentlich, »ich muß wissen, wo sie jetzt ist. Ich hab’ in der Klinik angerufen, und man hat mir gesagt, daß sie letzte Woche entlassen wurde.«
»Bißchen spät, dein Mitgefühl«, sagte sie. »Meinst’ net auch?«
»Ja«, gab er zu. »Ich weiß, ich hätt’ mich gleich bei ihr melden müssen. Es tut mir ja auch alles sehr leid, und deshalb möcht’ ich’s wiedergutmachen. Mich wenigstens bei ihr entschuldigen. Frauke, du weißt doch, wie sehr wir uns geliebt haben. Bitte, Frauke, wenn du was weißt, dann sag’s mir!«
Die junge Frau blickte ihn unentschlossen an. Sie erinnerte sich nur zu gut an Anjas Anruf, als sie ihr sagte, sie sei fertig mit diesem Mann. Aber Frauke erinnerte sich an die unzähligen Male, wo Anja von Carsten als dem Mann ihres Lebens geschwärmt hatte. Sie wurde unsicher. Vielleicht bereute Anja inzwischen ja genauso, wie er.
Durfte sie sich einer Versöhnung entgegenstellen, indem sie ihm Anjas Aufenthaltsort verschwieg?
»Bitte«, sagte Carsten noch einmal.
Frauke holte tief Luft.
»Anja ist in St. Johann«, erklärte sie schließlich. »Sie macht dort einen Genesungsurlaub.«
»St. Johann? In einer Kurklinik?«
»Nein«, schüttelte die junge Frau den Kopf. »Sie wohnt im Pfarrhaus, der Geistliche hat sie bei sich einquartiert, weil die Zimmer in dem Ort alle ausgebucht sind.«
Carsten atmete insgeheim auf. Jetzt hatte er endlich ihre Adresse. Allerdings gab es noch ein anderes Problem – er war blank. Bis auf ein paar Euro hatte er nichts mehr in der Tasche.
Und das war der Grund, warum er jetzt fluchend den Kleiderschrank durchsuchte, in Anjas Garderobe herumwühlte und die Sachen auf den Boden warf, wenn er nichts fand. Er wußte nämlich nicht, wie er nach St. Johann kommen sollte, von dem er inzwischen wußte, daß dies ein kleiner Ort in den Bergen war.
Eine Lederjacke hing noch auf einem Bügel. Er nahm sie heraus, griff in die Taschen und unterdrückte einen spontanen Freudenschrei, als er etwas zwischen den Fingern spürte, das sich wie ein Geldschein anfühlte.
Triumphierend holte er es heraus und stellte fest, daß es sogar zwei Scheine waren, insgesamt hundertfünfzig Euro. Damit ließ sich doch schon was anfangen. Jetzt konnte er nur noch hoffen, daß der alte Campingbus, der hinten im Hof stand, seinen Geist noch nicht aufgegeben hatte. Und dann stand einer Fahrt nach St. Johann nichts mehr im Wege.
Hastig lief er in den Hof und versuchte den Wagen zu starten. Der Bus war schon alt, ein Überbleibsel aus Tagen, in denen es ihm besser gegangen war. Aber die würden wiederkommen, davon war Carsten Winter überzeugt.
Der TÜV war vor drei Monaten abgelaufen, und wahrscheinlich waren nicht nur die Bremsen defekt. Aber der Motor war jedenfalls in Ordnung. Er sprang sofort an, als Carsten den Zündschlüssel drehte, und er atmete erleichtert ein.
An diesem Abend verkniff er es sich, durch die Straßen und Spielhallen zu streifen, auch wenn das Geld, das er in der Tasche hatte, ihn geradezu herausforderte. Carsten wußte, daß er es als eine Investition in eine bessere Zukunft betrachten mußte. In Gedanken spielte er bereits mit Millionenbeträgen, die dieser Großonkel Anja vielleicht hinterlassen hatte, da konnte er schon mal darauf verzichten, hundertfünfzig Euro zu verspielen. Bei aller Leidenschaft hieß es jetzt, einen kühlen Kopf zu bewahren und zu überlegen, wie er Anja dazu bringen konnte, ihm zu verzeihen und vor allem, ihm in dieser Angelegenheit freie Hand zu lassen. Er mußte geschickt vorgehen, sie einlullen, auf die alten, guten Zeiten miteinander verweisen, dann konnte das alles gar kein Problem sein.
An diesem Abend legte er sich zufrieden schlafen. Carsten Winter war sicher, daß Anja, wenn er seinen Charme spielen ließ, dahinschmelzen würde, wie Eiscreme in der Sonne!
*
Himmel, wie konnte das Leben schön sein!
Während der Wochen und Monate in der Klinik hatte Anja nicht geglaubt, daß sie jemals wieder so fühlen könnte wie jetzt. Damals war sie in einen Abgrund gestürzt, und es hatte keinen Menschen gegeben, der ihr wieder herausgeholfen hätte.
Doch jetzt hatte sie ihn gefunden.
Zuerst war sie erschrocken gewesen und voller Zweifel. War es richtig gewesen, sich wieder zu verlieben?
Im ersten Rausch hatte sie zugelassen, daß Florian sie küßte, mehr noch; sie hatte ihn dazu aufgefordert. Als sie dann in ihrem Bett lag und nicht einschlafen konnte, weil soviel auf sie einstürmte, da fragte sie sich, ob sie nicht einen großen Fehler gemacht hatte, als sie ihren Gefühlen nachgab.
Pfarrer Trenker war die Veränderung der jungen Frau nicht entgangen. Als sie beim Frühstück saßen, blickte Anja Weilander stumm vor sich hin, ohne sich, wie sonst, an der Unterhaltung zu beteiligen. Für einen Moment glaubte Sebastian, sie wäre in Depressionen gefallen, so schwermütig war ihr Blick. Doch dann ahnte er, daß es etwas mit dem gestrigen Abend zu tun haben müsse. Er beschloß, abzuwarten, bis Anja von sich aus zu ihm kam, um darüber zu sprechen.
Nach dem Frühstück zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück. Die junge Frau hatte Sophie Tappert beim Abräumen geholfen und den Abwasch gemacht. Jetzt klopfte sie an Sebastians Tür.
»Kommen S’ nur herein, Anja«, forderte er sie auf. »Ich hab’ mir schon gedacht, daß Sie mit mir reden möchten.«
Er bat sie, Platz zu nehmen und sah sie schmunzelnd an. »Es geht um gestern abend, net wahr?«
Sie nickte stumm.
»Hat der Florian Ihnen gesagt, daß er Sie liebt?« fragte der Bergpfarrer.
Anja schaute ihn verwundert an.
»Woher wissen Sie das?«
»Das war net schwer zu erraten«, antwortete er lächelnd. »So, wie der Florian Sie immer angeschaut hat, und Sie ihn…«
Die junge Frau lächelte auch.
»Ja«, sagte sie leise, »es ist so. Er hat’s mir gesagt, und ich ihm.«
»Na, dann ist doch alles in bester Ordnung.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nix ist in Ordnung. Können S’ net verstehen, daß ich Angst hab’? Angst, wieder auf einen Mann hereinzufallen. Noch einmal all das durchzumachen, was ich hinter mir hab’?«
»Doch, Anja«, antwortete der Geistliche, »das kann ich sehr gut verstehen. Und Sie wären auch net gesund, wenn S’ sich blindlings in eine neue Liebe stürzten, ohne die möglichen Folgen zu bedenken, nur weil Sie einsam sind und sich nach jemandem sehnen, der Sie in die Arme nimmt und zärtliche Worte zu Ihnen sagt.
Aber glauben S’ mir; Florian ist net der Mann, den Sie verlassen haben, dem Sie so gleichgültig sind, daß er sich net einmal nach Ihnen erkundigt hat, als sie auf Leben und Tod in der Klinik lagen. Florian ist ein and’rer Schlag.«
Sie blickte immer noch zweifelnd.
»Wie können S’ da so sicher sein?«
»Weil ich die Menschen kenn’«, erwiderte Sebastian.
»In all den Jahren, die ich jetzt Seelsorger bin, hab’ ich unzählige kennengelernt. Arme und Reiche, liebens- und verachtenswerte, und immer hab’ ich gewußt, was ich von ihnen zu halten hatte. Florian Mahler gehört zu jenen seltenen Zeitgenossen, denen die Aufrichtigkeit ins Gesicht geschrieben