Die zweifelhafte Miss DeLancey. Carolyn Miller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolyn Miller
Издательство: Bookwire
Серия: Regency-Romantik
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783775174862
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vollkommene Mensch, der je gelebt hat, ist unser Herr selbst. Und sogar Jesus hat sich geweigert, einen Stein aufzuheben.«

      Als hätte er gar nicht zugehört, schüttelte Braithwaite nur den Kopf und murmelte: »Aber ich hätte darauf bestehen sollen, dass ein Chronometer benutzt wird. Und jetzt ist Miss York tot und ich bin schuld.«

      Ben unterdrückte einen Seufzer. Was war nötig, damit ein Mensch sich selbst vergab? Selbstanklage fraß einen auf, bis jegliches Selbstwertgefühl verschwunden war. Der Einzige, der einen heilen konnte, war Jesus. Dazu musste man ihm aber Glauben schenken.

      Er legte dem anderen die Hand auf den Arm. »Vergessen Sie nicht, dass Gott Sie liebt.«

      Braithwaite lachte höhnisch. »Deshalb muss ich weiterleben und mich quälen.« Er sah ihn verzweifelt an. »Können wir uns diese Woche noch einmal treffen?«

      »Leider nicht. Ich muss meine Schwester zu meinem Bruder nach Kent bringen.«

      »Tessa?«

      Ben nickte. Das Leuchten in Braithwaites Augen erlosch. Er müsste es sich eigentlich verbitten, dass der Mann einfach so Tessas Vornamen benutzte. Matilda hatte recht, es war für alle das Beste, Tessa aus Brighton – und damit von Braithwaite – fortzubringen. »Danach bin ich dann in London. Ich schreibe Ihnen, dann können wir uns dort mal sehen, wenn es Ihnen recht ist.« Er zögerte, dann sprach er weiter: »Ich will auch Burford und Lancaster besuchen.«

      Braithwaite stöhnte. »Das wäre die reinste Qual.«

      »Es muss ja nicht sein.«

      »Doch, es muss sein.«

      Ben sah, das Tessa auf sie zukam. »Ich muss leider gehen.« Er nahm Braithwaites Hand »Ich bete für Sie.«

      »Das habe ich nötig«, war die gemurmelte Antwort.

      Ben zwang sich zu einem Lächeln, ging auf seine Schwester zu und zog sie sanft, aber bestimmt zur Seite.

      Sie spähte über seine Schulter. »Das war doch Kapitän Braithwaite.«

      »Er hat es ein wenig eilig.« Sofort bereute er heftig, was er gesagt hatte.

      »Aber ich wollte mich doch noch verabschieden.« Sie seufzte. »Ich möchte nicht nach Kent. Ich möchte nicht zu George.«

      »Es wird schon nicht so schlimm werden. Wo ist Mattie?«

      »Ach, sie hat doch immer jemanden, mit dem sie dringend reden muss.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Aber ich habe gesehen, dass sie mit Miss DeLancey gesprochen hat. Wie schön, dass sie gekommen ist. Sie war bis jetzt noch nie bei einem Gottesdienst.«

      Er kannte Miss DeLancey nicht und sie interessierte ihn auch nicht, aber er hätte gern mehr über eine hübsche Dunkelhaarige namens Clara erfahren.

      Er sah über die Schulter zurück.

      Und blickte in grüne Augen.

      Sein Herzschlag beschleunigte sich. Clara sah sich nach ihm um, während die ältere Dame sie fortzerrte.

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Ornament

      Im Wohnzimmer hörte man Klavierspiel. Clara spielte gerade den letzten Satz; jetzt ließ sie die Hände sinken. Ein wenig Mozart hatte schon immer geholfen, ihren inneren Aufruhr zu besänftigen.

      »Sehr schön, meine Liebe.« Ihre Mutter stand in der Tür. »Schön, dich wieder spielen zu hören.«

      Clara lächelte. Ihr Arm tat immer noch weh; das Spielen war nicht ganz einfach gewesen, doch sie hatte es gebraucht, und wenn auch nur, um die beunruhigenden Gedanken zu vertreiben, die sie seit der Begegnung am Sonntag nicht mehr losließen.

      Er hatte sehr viel attraktiver und kultivierter gewirkt, als sie nach den früheren Begegnungen mit ihm und seinen beunruhigenden Blicken für möglich gehalten hätte. Sie hatte nicht anders gekonnt, als seine gepflegte Erscheinung zu bewundern. Er trug einen gutgeschnittenen dunkelblauen Mantel, der sich um seine breiten Schultern schmiegte – Schulterpolster waren hier wahrlich überflüssig! –, und Hosen, die seine muskulösen Beine betonten. Seine Krawatte war so exakt gebunden, dass nicht einmal Richard etwas daran auszusetzen gehabt hätte. Mutter hatte natürlich die vorlauten Manieren des Unbekannten kritisiert und eine unfreundliche Bemerkung über seinen gebräunten Teint gemacht, der darauf schließen ließ, dass er zu viel Zeit in der Sonne verbrachte. Clara hatte ihre Gedanken für sich behalten: dass die Bräune seine blauen Augen betonte und dass seine Manieren sie an die offene und ungezwungene Matilda erinnerten. Sie hoffte – ja, sie hatte darum gebetet –, dass, falls sie sich wieder begegneten oder vielmehr, wenn sie sich wieder begegneten, was bei den wenigen Leuten, die das ganze Jahr über in Brighton blieben, sehr wahrscheinlich war, er sich nicht an ihre erste Begegnung auf den Klippen in der stürmischen Nacht erinnerte.

      »Wann kommt die Frau des Vikars?«

      »Mutter, das klingt, als hieltest du seinen Beruf für etwas Schädliches.«

      »Das tue ich ja auch. Schädlich für unsere Art zu leben.«

      Vielleicht für unsere Selbstsucht, ja. Clara presste die Lippen zusammen. Nach Mr McPhersons Predigt spürte sie eine innere Ruhelosigkeit, ein Ziehen, das nur die Musik zeitweise beschwichtigen konnte. Doch sie bezweifelte, dass irgendetwas ihre Seele wirklich heilen konnte.

      Es läutete an der Tür.

      Clara erhob sich vom Klavierschemel und ging zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Aus der Diele hörte sie ein Murmeln, dann ging die Tür auf und Mrs McPherson wurde angekündigt.

      Wie schon früher, reagierte Clara auch diesmal auf Matildas strahlendes Lächeln ebenfalls mit einem Lächeln. Dann plauderten die beiden ein Weilchen mit Claras Mutter, doch das Gespräch beschränkte sich auf konventionelle Höflichkeiten: das Wetter, gemeinsame Bekannte, Neuigkeiten aus London. Offenbar bestand Matilda Mutters geheimen Test, denn sie bestellte Tee.

      Als Meg mit dem Tee und einem Teller Johannisbeertörtchen zurückkam, war Mutter bereits höchst konziliant und fragte sogar schon nach Matildas Familie.

      »Wie ich es verstanden habe, lebt ihre Familie in Kent?«

      »Ja, meine Dame. Wir sind nicht weit von Chatham Hall aufgewachsen, wo Vaters Cousin die Baronetswürde besaß. Vater ist gestorben, bevor er den Titel geerbt hat, der dann vor zwei Jahren auf meinen Bruder George übergegangen ist.«

      »Und Ihre Mutter?«

      »Sie starb, als wir noch ganz klein waren.«

      »Das tut mir leid«, murmelte Clara.

      »Ja, ja, natürlich«, sagte Mutter und bot ihrem Gast noch Tee an. »Und ist Ihr Bruder verheiratet?«

      »Meine beiden Brüder sind unverheiratet.«

      Clara unterdrückte ein Lächeln. Natürlich, weil einer von ihnen noch ein Junge war.

      Mutter seufzte. »Wir hatten eigentlich erwartet, dass Clara längst verheiratet wäre, aber das Leben hält manchmal grausame Überraschungen für uns bereit.«

      Das innere Lächeln erlosch.

      »Ganz richtig, Lady Winpoole.« Matildas ernster Ton, der rasche – mitleidige? – Blick, den sie Clara zuwarf, ließ diese erstarren. Wusste sie etwas über ihre jämmerliche Vergangenheit?

      Glücklicherweise schien Mutter zufrieden mit dem Schaden, den sie bis jetzt angerichtet hatte, und zog sich bald darauf zurück. Als sie fort war, herrschte erst einmal ein verlegenes Schweigen zwischen den beiden jungen Frauen. Sollte Clara jetzt Erklärungen liefern? Oder lieber doch nicht? Aber