Ein Bild der furchtsamen jungen Dame, mit der er zusammengeprallt war, erstand vor seinem geistigen Auge. Er schüttelte den Kopf. Gott bewahre, dass Tessa so unsicher wurde! »Das wird sie wohl kaum lernen, wenn sie sich immer hinter dir versteckt.«
Die Augen seiner Schwester blitzten auf. »Oder hinter dir!«
»Stimmt.«
»Und deshalb glaube ich, dass George mit seiner Gleichgültigkeit vielleicht genau der Richtige ist, ihr beizubringen, sich zu behaupten.«
»Wenn seine Gleichgültigkeit sie nicht umbringt«, sagte er. »Er kreist so sehr nur um sich selbst, dass er jemand, der ihm selbst nichts nützt, überhaupt nicht wahrnimmt.«
»Dann könnte es für beide von Vorteil sein.« Mattie nickte langsam.
»Und für dich auch. David ist ein sehr zuvorkommender Gastgeber, aber ich glaube nicht, dass er mit so vielen Kemsleys gerechnet hat, als er dir einen Antrag machte.«
»Du weißt doch, dass er Tessa liebt wie seine eigene Schwester.«
»Und wie die meisten frisch verheirateten Ehemänner wünscht er sich bestimmt, wir wären nicht hier.« Ben unterdrückte ein Seufzen. Sein Idyll in Brighton sollte wohl doch früher zu Ende gehen, als er geplant hatte.
»Aber Benjie, ich will dich nicht wieder verlieren. Du bist doch gerade erst zurückgekehrt.«
»Du würdest mich nicht verlieren. Ich wäre nur in London.«
»Ich vergesse manchmal, wie gut du London kennst.« Mattie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Bist du Miss DeLancey früher nie begegnet, als du noch in London warst?«
War er Miss DeLancey vielleicht tatsächlich begegnet? Bei einem seiner kurzen Ausflüge in die Londoner Gesellschaft? Wenn ja, hatte sie keinen großen Eindruck bei ihm hinterlassen.
»Das war vor fünf Jahren, Mattie. Seither ist viel geschehen.«
»Natürlich. Ich dachte ja nur.«
Vielleicht war Miss DeLancey nicht die Einzige, die wenig anziehend wirkte, dachte Ben ironisch, als ihm erneut die beiden Damen einfielen, die ihm selbst eindrucksvoll demonstriert hatten, dass er abschreckend war. Jetzt saß er da mit dem seltsamen Gefühl, an Land festzusitzen und gleichzeitig – mehr denn je – auf dem Meer des Lebens zu treiben.
»Clara, mein Liebling«, die dicht bewimperten haselnussbraunen Augen des Grafen lächelten sie liebevoll an, »willst du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?«
Eine wunderbare Wärme erfüllte sie. Sie beugte sich vor und lächelte ihn glückselig an: »Ja.«
Sie würde eine Gräfin werden! Die Frau des bestaussehenden Mannes, den man sich vorstellen konnte. Verheiratet mit einem Kriegshelden. Einem Mann – oh, und was für einem Mann! –, der so viele ihrer Leidenschaften teilte. Tausend Bilder sangen in ihrer Seele. Der Graf, wie er sie zärtlich anlächelte. Der Graf, wie er mit ihr tanzte. Der Graf, wie er ihr Komplimente über ihre musikalische Begabung machte. Der Graf, wie er mit ihrer Familie speiste.
Durch die Decke drang die Kälte auf sie ein. Sie kniff die Augen zusammen, klammerte sich verzweifelt an die letzten Fragmente ihres Traums. Doch er war verschwunden, verdunstet wie Morgennebel in der Wärme der aufgehenden Sonne.
Und gleich darauf meldete sich wieder der vertraute Schmerz in ihrem Herzen. Wie hatte er sie nur abweisen können? Wie hatte er eine Landpomeranze, ein gesellschaftliches Nichts, der Tochter eines Viscounts vorziehen können? Ihr, die zu Londons gefeierten Schönheiten gezählt hatte? Ihr, die sich mit erlesenem Geschmack zu kleiden wusste, die Debrett’s Adelskalender auswendig konnte, die alles wusste, was eine wahre Lady wissen musste? Sie hätte ihm Kinder schenken können. Sie wäre die perfekte Frau für ihn gewesen. Es war ihrer beider Mütter sehnlichster Wunsch gewesen.
Eine Träne lief ihr über die Wange. Was stimmte bloß nicht mit ihr?
Die Zurückweisung lastete schwer auf ihrer Seele, ein Wirbel geisterhafter Erinnerungen und Bilder peinigte und verfolgte sie:
Der Graf, wie er mit seiner Frau zusammen lachte. Der Graf, wie er seine Frau in die Arme schloss. Der Graf, wie er das Haus, das Bett – alles! – mit der Frau teilte, die Clara hätte sein sollen.
Wie hatte er sich in ihr Herz hineinlächeln und sie dann ausrangieren können, als sei sie ein Nichts?
War sie plötzlich hässlich geworden? Kein Mann hatte sich seither in ihre Nähe gewagt. War sie einfach nicht liebenswert? Ihr Herz zog sich zusammen vor Schmerz. Würde es ihr überhaupt jemand sagen, falls es so war?
Sie schluchzte auf. Dann rollte sie sich auf die Seite, wischte die Tränen fort und starrte auf das fahle Licht der Morgendämmerung, das durch die halb geöffneten Vorhänge fiel. Warum hatte er Lavinia Ellison ihr vorgezogen?
Lavinia. Die Gräfin von Hawkesbury. Die Frau, die sie so lange gehasst hatte, bis sie das Gefühl hatte, ihr Herz sei ein schwarzes Loch, und sie hätte vergessen, wie man lebte.
Lavinia. Deren unverhoffte Güte letztes Jahr Claras Selbsthass noch vergrößert hatte. Monatelang hatte die Scham an ihrer Seele genagt und noch die letzten Reste von Selbstvertrauen untergraben. Sie hatte nichts; sie war nichts. Sie konnte sich kaum erinnern, wie es war, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Matilda und Tessa hatten es ihr zwar leicht gemacht, so zu tun, als sei sie nett, doch das lag nur daran, dass sie ihre Geschichte nicht kannten. Sobald sie sie kannten, würden sie sie ebenfalls schneiden, wie so viele andere. Außerdem erlaubte Mutter ihr nicht, ihre Bekanntschaft mit diesen Damen zu vertiefen, so nett sie auch sein mochten.
Das schwere Gewicht, das ihr das Herz abdrückte, wollte nicht weichen. Sie sah ihre Zukunft vor sich, eine Zukunft wie die letzten beiden Jahre, Jahre der Einsamkeit und Langeweile, Jahre der Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit. Würde sie je wieder leben und lachen können?
Das trübe Licht nahm langsam einen goldenen Schimmer an. Sie kniff die Augen zusammen. Heute musste Sonntag sein. Sie rechnete nach. Ja, heute war Sonntag. Ein Tag der Ruhe.
Sie setzte sich auf und rieb sich das verweinte Gesicht.
Ein Tag, an dem sie den seltsamen Wunsch verspürte, Matildas unausgesprochene Einladung anzunehmen und darauf zu bestehen, dass ihre Eltern sie in die Kirche begleiteten.
»Nun, Clara, ich kann nicht sagen, dass es mir gefällt, dass du uns hierhergeschleift hast, aber es scheint doch immerhin ein paar Leute zu geben, die es sich lohnt kennenzulernen.«
Bei Mamas Kommentar, so leise sie auch flüsterte, zuckte sie zusammen und blickte sich verlegen um. Die anderen Gottesdienstbesucher wechselten zwar ebenfalls hin und wieder ein Wort mit ihren Nachbarn, aber Clara hätte sich doch gewünscht, dass Matildas Mann nicht gleichzeitig versuchen würde, eine Predigt zu halten.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit nach vorn und zwang sich, ihm zuzuhören. Es dauerte ein Weilchen, bis es ihr gelang, ihre Gedanken am Abschweifen zu hindern. Gott wusste, dass sie ihn nicht behelligen wollte, aber vielleicht sagte der Pfarrer ja doch etwas, das es wert war, beachtet zu werden.
»… und deshalb hat unser Herr gesagt: ›Wer von euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen.‹« Mr McPherson sah seine Gemeinde an. »Gibt es hier irgendeinen Menschen, der von sich behaupten kann, er sei ohne Sünde?«
»Also