Vor ihm sank gerade ein gewaltiger Stein in die Dunkelheit hinab, darüber sah er die beiden um sich tretenden Beine. Die lauten Schreie erregten ihn. Er öffnete sein Maul und drang rasch durch die Hitze vorwärts.
In dem Moment als er sich auf dem Weg nach oben befand, bebte wie im Wettstreit um seine Aufmerksamkeit der Meeresboden unter ihm. Der herabgestürzte Stein war auf einem Ozeankliff aufgeprallt, riss inwendig auf und zerbrach. Mehrere leichtere Vibrationen brachten das Detektionssystem des Hais in Alarmbereitschaft.
Er taxierte aber weiterhin die Körper. Beide schwebten unter dem schwachen Licht dahin, zwei verkohlte, bewegungslose Leichen. Ihn beschäftigte jetzt nur noch eine Frage, nämlich, welche er zuerst fressen sollte.
Nun bemerkte er, dass der Stein geborsten war. Ein schmaler, langer Kopf schnellte daraus hervor, als er daran vorbeikam. Ein glatter Fortsatz wickelte sich um seinen Rumpf und zog ihn zu dem Stein, während der Kopf an seinem Körper entlangglitt, bis er es schaffte, in eine seiner Kiemen zu schlüpfen.
Der Hai biss zu, konnte den Eindringling aber nicht aufhalten. Immer wieder schlug er die Zähne aufeinander, während sich das wurmartige Ding zur Gänze in seinen Leib schlängelte.
Als er sich zu den Toten umdrehte, heftete sich der invasive Organismus an seine Eingeweide. Er spürte, wie sich das Wesen in ihm ausdehnte, wand und anpasste, sodass er irgendwann das Gefühl hatte, es sei schon immer da gewesen. Dies verstörte ihn zwar, aber er nahm die veränderten Umstände hin, denn anscheinend waren seine Körperfunktionen davon unbeeinträchtigt. Dann belegte etwas Kühles seine Basihyale – das Organ des Hais, das am ehesten einer Zunge entsprach – und bohrte winzige Zangen in das Fleisch hinein.
Er sträubte sich zwar dagegen, verlor jedoch im Zuge des Aufruhrs seinen Instinkt. Als er die beiden Leichen erreicht hatte, war sein Fressdrang plötzlich verschwunden. Die krampfhaft verdrehten Körper erregten in ihm etwa so viel Appetit wie ein Haufen Gummireifen, weshalb er sich mit geschlossenem Maul zwischen ihnen hindurchzwängte.
Die Leichen stiegen jetzt langsam wieder an die Oberfläche und er ließ die Mahlzeit bewusst entwischen. Der Hunger war ihm gründlich vergangen. Er glitt wieder hinunter in die Tiefe. Nahezu von einer Sekunde auf die nächste wurde sein Verstand gegen jenen des Parasiten ausgewechselt. Denn dieser kontrollierte ihn ab jetzt.
Frühlingsgefühle
Manuel sah sich gerade noch so im Spiegel und dachte: Scheiße!, kurz bevor er mit dem Gesicht dagegen knallte.
Er trug Schrammen rings um seine Augen herum davon und das eine schwoll ganz zu. Glassplitter stachen ihm überall ins Gesicht wie wütende Hornissen, als sei er mit dem Kopf mitten in ein Nest gefallen. Der Schläger, der ihn festhielt wie einen Rammbock, nutzte die Gelegenheit, um ihm mehrmals hintereinander in die Rippen zu boxen, was Manuel komplett die Luft raubte.
Als sein Schädel auf die Scherben im Waschbecken krachte, knirschte es laut. Er wollte durchatmen, doch sein Körper spielte einfach nicht mit. Die Schmerzen waren überall zugleich, und als es ihm endlich gelang, einmal flach Luft zu holen, beschlich ihn der Verdacht, dass diese Typen womöglich darauf gewartet hatten, dies zu tun, seit sie ihn am Vorabend in Miami vom Gehsteig aufgelesen hatten.
In gewisser Weise erleichterte ihn diese Feststellung, denn das hieß, dass das Warten nun vorbei war.
»Das reicht«, sagte Garcia, während er das Rauchen seiner Cohiba-Zigarre kurz unterbrach. »Lasst diesen cabrón los.«
Einer der Schläger – entweder Tavo oder Quino, packte Manuel an einem Büschel Haare und hob den Kopf so weit an, dass der Geprügelte die Blutlache vermischt mit den Scherben sah, in der er gelegen hatte. Er wurde noch höher gezogen und festgehalten, als er zu sprechen versuchte. Dies war offenbar das Zeichen dafür, seinen Schädel wieder so fest auf das Porzellan zu schlagen, dass es zerbrach wie Sperrholz. Er prallte von den Beckenteilen ab und fiel auf den Boden.
Urin spritzte aus einer Pfütze auf Tavo. Von unten konnte Manuel Garcia nicht sehen, aber als er seinen Kopf zur Seite sacken ließ, konnte er mit dem noch offenen Auge eine Wolke Zigarrenqualm erkennen, die zur Decke aufstieg. Garcia lachte mit einer tiefen Stimme aus dem Bauch heraus.
Eine Sekunde lang glaubte Manuel, das Schlimmste überstanden zu haben, doch dann begannen Tavo und Quino, ihm in den Brustkorb zu treten.
»Okay, okay«, lenkte Garcia ein und winkte seine Schergen mit einer Bewegung seiner Hand, in der er die Zigarre hielt, weg. Keiner der beiden – sie trugen Lederwesten über ihren gestählten, flächendeckend tätowierten Oberkörpern – sah sonderlich froh darüber aus, zurückgepfiffen zu werden. »Ihr brecht ihm sonst ja noch jeden verdammten Knochen in seiner Brust. Und was dann? Soll ich etwa für seinen Krankenhausaufenthalt blechen?«
Manuel schmeckte Blut in seinem Mund. Er schluckte es herunter und fasste sich dann vorsichtig in das Gesicht … allerdings nur mit den Fingerspitzen. Selbst die leichteste Berührung verursachte grauenvolle Schmerzen. Zähes Blut haftete an seinen Fingern, als er sie zurückzog, wobei er sich fragte, ob er Garcia tatsächlich dazu bringen konnte, für diesen Aufenthalt zu zahlen.
Er entschied sich, lieber nicht zu fragen.
Der Mann kniete jetzt neben ihm nieder. Seine Knie knackten arthritisch. Er biss auf seine Zigarre und grinste, dann blies er Manuel einen Schwall Rauch in das Gesicht. »Mit einem wunden Tier kann man auf zweierlei Art umgehen.« Er schob die andere Hand in die Tasche seines Jacketts, das aus weißem Leinen bestand, und nahm noch eine Cohiba heraus. Diese bot er ihm an.
Manuel nickte, woraufhin Garcia so höflich war, die Spitze abzuschneiden und sie ihm in den Mund zu stecken.
»Würde ich auf Tavo und Quino hören, müsste ich einen verletzten Köter von seinem Elend erlösen. Das ergibt doch auch irgendwie Sinn, qué? Ich meine, der Hund wird sowieso nie mehr derselbe sein, sondern humpeln, wenn er laufen sollte, also ja, Einschläfern wäre vernünftig. Mit meinen zwei Pappenheimern verhält es sich aber so, dass ich sie dafür entlohne, brutal zu sein, damit mir das Ganze erspart bleibt. Du kannst das bestimmt nachvollziehen, weil du auch einmal so warst wie sie. Du weißt, dass ich das Gefühl ziemlich unangenehm finde.«
Nun war es so still in dem Raum, dass sich Manuel einbildete, das Blut tröpfchenweise aus seinem Gesicht auf den Boden rieseln zu hören. Die Zigarre war hart, als er darauf biss, und Tabakbrösel verteilten sich in seinem Mund. Garcia kniff seine Augen zusammen und ließ seine Künstlerpause weiter andauern.
Er wollte Furcht in Manuels Gesicht sehen und sich daran weiden. »In diesem Fall stehe ich aber selbst in der Pflicht«, fuhr er schließlich fort. »Denn der Tierfreund in mir erinnert sich natürlich auch an schöne Zeiten – an jene Momente, in denen mein Köter ein guter Hund gewesen ist. Dieser Teil von mir möchte davon absehen, ihn zu töten, nur weil er nicht mehr apportieren kann.« Er versetzte Manuel eine Ohrfeige. Manuel hatte das Gefühl, vom Blitz getroffen worden zu sein.
»Hörst du mir überhaupt noch zu?«, fragte Garcia.
Manuel zwinkerte, weil ihm der Kopf zu sehr wehtat, um ihn zu bewegen.
»Gut«, sagte Garcia dann, »weil ich nämlich Folgendes denke … du bist schon lange nicht mehr auf der Höhe. Verflucht lange. Andererseits kann man es dir nicht verübeln, aber genau das begreifen Tavo und Quino eben nicht. Vielleicht humpeln sie ja auch eines Tages nach Hause. Falls das geschieht, werden sie hoffen, dass sich der Tierfreund in mir an die guten Zeiten erinnert, die ich mit ihnen hatte.« Er nahm jetzt ein Butangas-Feuerzeug aus der Tasche und schlug es mit einem kräftigen Daumendruck an.
Die Flamme zischte und brachte die Spitze von Manuels Zigarre zum Knistern. Gleich darauf sah er, wie sich graue Asche daran kräuselte. Er zog mehrmals tief daran. Dies half ihm dabei, ruhig zu atmen, und sobald