Dr. Parker hatte inzwischen schon mitbekommen, daß eine Notoperation erforderlich wurde. Während sich Stefan eiligst, aber dennoch mit der gebotenen Gründlichkeit die Hände wusch, leitete der Anästhesist schon die Narkose ein. Im Laufschritt kam Stefan in den OP, blieb dann aber abrupt stehen.
Er sah die Patientin an, die jetzt reglos auf dem OP-Tisch lag, und die Hebamme, die noch immer das Baby zurückdrückte. Übelkeit stieg in ihm auf.
»Jeff, meine Güte, was soll ich jetzt bloß tun?« wandte er sich verzweifelt an den Anästhesisten. »Ich habe noch nie einen Kaiserschnitt gemacht.«
»Aber du warst schon oft dabei, Stefan«, entgegnete Dr. Parker, und der Assistenzarzt fragte sich, woher Jeff seine Gelassenheit nahm. Er selbst war im Moment das reinste Nervenbündel.
»Komm schon«, fuhr Dr. Parker drängend, aber noch immer mit bewundernswerter Ruhe fort. »Hier sind zwei Menschen, die dich dringend brauchen. Das Baby wird sterben, wenn du nicht sofort den Kaiserschnitt machst.« Der Blick seiner blauen Augen war zwingend. »Stefan, du bist ein erstklassiger Arzt – genau wie dein Vater. Du kannst es.«
Der junge Assistenzarzt wurde jetzt merklich ruhiger. Er trat an den OP-Tisch und versuchte sich an die Kaiserschnitte zu erinnern, bei denen er assistiert hatte, doch in seinem Kopf
herrschte gähnende Leere. Wieder drohte er in Panik zu geraten, doch da fielen ihm die Worte ein, die sein Vater nach einer schwierigen Operation einmal zu ihm gesagt hatte.
»Weißt du, Stefan, es nützt niemanden, wenn man angesichts einer solchen Situation die Nerven verliert. Das ist zwar manchmal leichter gesagt als getan, aber wenn du einmal in eine solche Lage geraten solltest, atme tief durch, zähle in Gedanken bis zehn, und dann fang mit deiner Arbeit an. Mach das Wichtigste zuerst und kümmere dich nicht um den Zustand des Patienten. Dafür ist der Anästhesist zuständig, und wir haben hier an der Waldsee-Klinik mit Erika und Jeff die besten Anästhesisten, die man sich nur wünschen kann.«
Stefan schloß die Augen und atmete tief durch, dann warf er Dr. Parker einen kurzen Blick zu, bevor er die Hand ausstreckte.
»Skalpell.«
Schwester Irmgard, die einmal eine Weile als OP-Schwester gearbeitet hatte, reichte ihm mit einer raschen, gezielten Bewegung das Skalpell. Stefan setzte an, um den Bauchschnitt durchzuführen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. War da nicht etwas mit der Blase? Angestrengt runzelte er die Stirn, dann nahm er den Bauchschnitt vor.
»Können Sie mir assistieren?« wollte er von der Hebamme wissen, die sich inzwischen ebenfalls keimfrei gemacht und den Operationssaal wieder betreten hatte. Jetzt war es nicht mehr nötig, das halb geborene Kind zurückzudrücken, denn die Wehentätigkeit war mit dem Einleiten der Narkose ohnehin zum Erliegen gekommen.
»Ich kenne das alles nur aus der Theorie«, entgegnete Anna Lüder wahrheitsgemäß. »Aber versuchen kann ich es zumindest.«
»Absaugen bitte«, wandte sich Stefan an Schwester Irmgard, dann sah er Anna Lüder kurz an. »Ich teile jetzt das Peritoneum. Wenn ich drin bin, ziehen Sie bitte an dieser Seite.«
Anna Lüder nickte, doch als es soweit war, hatte sie doch gewisse Hemmungen.
»Kann ich da wirklich nichts kaputtmachen?« fragte sie etwas unsicher.
Stefan schüttelte den Kopf. »Ziehen Sie noch ein bißchen fester.« Wieder runzelte er angestrengt die Stirn. »Man schneidet den Uterus im unteren Segment auf.«
Anna Lüder warf ihm einen kurzen Blick zu. »Fragen Sie mich?«
»Nein, ich frage Gott«, entgegnete Stefan, und die Hebamme war nicht sicher, wie er das tatsächlich meinte.
Vorsichtig versuchte Stefan die Gebärmutter zu öffnen, doch er war zu zaghaft, weil er das Baby nicht verletzen wollte. Erst mit dem zweiten Schnitt kam er durch. Im selben Moment schoß ihm ein Schwall Blut entgegen.
»So ein Mist«, knurrte Stefan. »Die Plazenta beginnt bereits, sich zu lösen. Jeff, die Patientin braucht Blut.«
»Bin schon dabei«, entgegnete der Anästhesist, der durch den rapide sinkenden Blutdruck der Patientin gemerkt hatte, wie es um Jana stand. »Kümmere dich ruhig erst um das Baby.«
Vorsichtig griff Stefan in den Bauch der Patientin und hob das Kind heraus. Dabei blieb ihm fast das Herz stehen.
»Mein Gott, ist der blau«, entfuhr es ihm. »Irmgard, schnell, den Mund absaugen.«
»Nabelschnur ist frei«, meldete die Hebamme, klemmte ab und durchtrennte die Nabelschnur. Kaum fünf Minuten waren vergangen, seit sie alle den Operationssaal betreten hatten, trotzdem schien es, als wäre es für das Kind bereits zu spät.
»Er atmet nicht«, stieß Stefan hervor, dann trug er das Baby schnellstens nach nebenan. »Wo ist Dr. Leitner?«
»Ich weiß nicht, wo er bleibt«, erwiderte Schwester Irmgard, die ihm gefolgt war. »Er müßte längst hier sein.«
»Ist jetzt egal«, urteilte Stefan. »Dann müssen wir es eben ohne ihn schaffen. Der Kleine muß beatmet werden. Ich intubiere.«
Es war schwierig, bei dem Baby einen Tubus einzuführen, doch Stefan schaffte es schon beim ersten Versuch. Ungefragt übernahm Irmgard die künstliche Beatmung, während Stefan jetzt eine Spritze mit einem Atemstimulans aufzog und geschickt injizierte.
»Er braucht eine Glukoselösung«, murmelte Stefan.
»Er hat noch keine Venen«, gab Irmgard zu bedenken.
»Das weiß ich. Ich muß die Infusion am Kopf legen.«
Irmgard warf ihm einen kurzen Blick zu. »Haben Sie das denn schon mal gemacht?«
»Nein, aber ich habe auch noch nie zuvor einen Kaiserschnitt gemacht, und er ist mir trotzdem gelungen.«
Als Stefan die Infusionskanüle zur Hand nahm, hielt Irmgard unwillkürlich den Atem an, doch der junge Assistenzarzt bewies auch jetzt, daß ihm sein Beruf im Blut lag – genau wie es bei seinem Vater der Fall war.
»Infusion läuft«, erklärte er schließlich, und aus seiner Stimme klang dabei deutlich Erleichterung.
»Er wird langsam rosig«, meldete sich Irmgard, dann lächelte sie. »Ich glaube, Sie haben’s geschafft, Herr Doktor.«
Stefan nickte knapp. Seine Gedanken waren bereits bei Jana, die noch immer im Operationssaal lag und in der Zwischenzeit von Dr. Parker versorgt wurde – soweit das möglich war.
»Den Tubus festkleben und weiter beatmen«, ordnete Stefan an. »Wenn Dr. Leitner kommt…«
»Bin schon hier!« rief der Kinderarzt atemlos. »Tut mir leid, daß ich so spät komme, aber…«
Stefan hörte nur mit halbem Ohr hin. »Ich muß wieder hin-über. Irmgard, einen neuen Kittel bitte.«
Die Nachtschwester beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, dann folgte sie Stefan in den OP. Der Kinderarzt würde auch ohne sie fertig werden, aber Stefan brauchte sie wahrscheinlich noch.
»Wie sieht’s aus, Jeff?« fragte der Assistenzsarzt, kaum daß er den Operationssaal betreten hatte.
»Sie hat zwei Blutkonserven bekommen und einen Liter Kochsalzlösung«, antwortete Dr. Parker. »Der Blutdruck ist allerdings noch ziemlich niedrig. Achtzig zu fünfzig. Puls hundertzwölf.«
Stefan nickte. »Damit kann ich leben. Und sie kann es auch.«
Er trat an den OP-Tisch