Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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war um das Herrenhaus herumgegangen, um von vorn auf dem gewöhnlichen Wege durch den runden Turm hineinzutreten. Als er die Vorderfronte des Hauses erreicht hatte, sah er den Burschen, der ihm am Morgen den Brief Karolinens nach Hofgeismar gebracht hatte, aus einer Seitenschlucht des Tals auf das Haus zukommen. Der Bursche ging eilig, und als er den Domherrn sah, winkte er diesem, als wenn er ihm etwas Dringliches mitzuteilen habe. Der Domherr blieb stehen, ihn zu erwarten.

      Der Bursche war Bernhard Henke, der Sohn der armen Bauersleute in Niederhelmern, der Führer der Schmuggler, der in jener Nacht vor etwas länger als einem Jahre durch einen Schuss der Grenzsoldaten in der Schulter verwundet und fast sterbend von dem Domherrn und Karoline Lohrmann aufgenommen und nach Ovelgönne gebracht worden. Er war dort unter der sorgsamsten Pflege genesen und seitdem dageblieben.

      Der kluge und gewandte Knabe hatte sich schon, wie er kaum wieder von seinem Krankenlager sich erheben und im Hause herumgehen konnte, so anstellig gezeigt und war jedermann im Hause so zur Hand gegangen, dass man, als er völlig wiederhergestellt war, meinte, er sei unentbehrlich auf Ovelgönne. So war er geblieben, hauptsächlich als Diener Karolinens und der Frau Mahler. Einen ganz besonders anhänglichen Eifer hatte er aber immer für die stille, leidende Frau und ihr Kind an den Tag gelegt; er hatte tausend Gefälligkeiten für beide.

      Er war kein Knabe mehr; er zählte bald seine siebzehn Jahre, und wenn er auch nicht groß war, so verriet sein schlanker Körper in allen seinen Bewegungen eine für sein Alter ungewöhnliche Kraft der Sehnen und Muskeln, und dabei hatte er das kluge Gesicht.

      Er kam bei dem Domherrn an.

      »Euer Gnaden, im Walde ist eine Dame, die Sie zu sprechen wünscht.«

      »Eine Dame, Bursche?«

      »In einem Wagen, Euer Gnaden.«

      »Wie sieht sie aus?«

      »Eine sehr schöne junge Dame. Ich habe sie schon einmal bei Euer Gnaden gesehen.«

      »Wo?«

      »Auf der Dahlheimer Sägemühle, im vorigen Sommer.«

      »Gisbertine?« fragte sich der Domherr. »Sie muss es sein. — Führe mich zu ihr.«

      Er gab seinen Gang zu der Frau Mahler auf und folgte dem Burschen quer durch das Tal in den gegenüberliegenden Wald.

      Unterwegs erzählte der Bursche.

      Er hatte seinen Botengang nach Hofgeismar an den Domherrn dazu benutzt, auf dem Rückwege einen Abstecher nach Niederhelmern zu machen, um seine Mutter und Geschwister zu besuchen. Auf dem Wege von da nach Ovelgönne war es ihm, als er in die Nähe des Ovelgönner Tals kam, aufgefallen, das Rollen eines Wagens zu hören, der aus dem Tale in einem alten Holzwege in den Wald fuhr. Er war darauf zugegangen.

      Mitten zwischen den Bäumen hatte der Wagen gehalten.

      Er hatte nur die schöne junge Dame darin gesehen. Sie hatte mit dem Kutscher gesprochen. Auf einmal hatte sie ihn gesehen und herbeigerufen und nun ihm den Auftrag gegeben, den wohl der Kutscher hatte ausführen sollen.

      »Bist Du bekannt in Ovelgönne?«

      »Ich bin Diener dort.«

      »Desto besser. Der Domherr von Aschen ist dort Du kennst ihn?«

      »Ich kenne ihn.«

      »Gehe hin und bitte ihn hierher zu mir. Ich lasse ihn dringend bitten; ich habe ihn notwendig zu sprechen. Aber noch eins, ich lasse ihn bitten, ganz allein zu mir zu kommen; und auch Du sprichst nur mit dem Domherrn und sagst keinem Menschen, was Du hier gesehen hast. Du siehst mir treu und ehrlich aus; ich verlasse mich auf Dich. Hier hast Du zur Belohnung einen Taler.«

      Sie hatte ihm einen Taler gegeben; er hatte den Domherrn gerufen.

      »Gisbertine!« bestätigte sich der Domherr. »Sie ganz und gar! Ob ich umkehre und den Gisbert mitnehme?«

      Aber er ging doch weiter.

      »Bei ihrem Eigensinn, ihrem Trotz könnte ich alles verderben.«

      Er kam im Walde an, sah den Wagen, erkannte Gisbertine.

      Er hieß den Burschen zurückbleiben.

      Gisbertine hatte den Kutscher auf die Seite treten lassen.

      Der Domherr und Dame Gisbertine waren allein.

      »Guten Tag, Onkel Florens!«

      »Guten Tag, Gisbertine!«

      »Onkel Florens, ich habe Dir etwas Wichtiges mitzuteilen.«

      »Ich auch Dir, Gisbertine. Gisbert ist hier.«

      »Ich weiß es, und darum bin ich gekommen.«

      »Ah, ich soll Dich mit ihm wieder aussöhnen?«

      »Nein!«

      »Dich ohne Aussöhnung zu ihm führen?«

      »Nein; Du sollst mich nur ruhig anhören.«

      »Sprich!«

      »Gisbert ist in Gefahr.«

      »Ja, ja, vor Dir!«

      »Lieber Onkel, erweisest Du mir einen Gefallen?«

      »Lass hören.«

      »Wolltest Du nicht so freundlich sein, Deine Bemerkungen bis nachher aufzusparen?«

      »Ich sehe, ich kann sie mir ganz ersparen. Erzähle!«

      »Onkel Florens, der Staat ist in Gefahr.«

      »Ah, Gefahr an allen Enden!«

      »Wenigstens für gewisse Leute, zum Beispiel für die Armee, das heißt für diejenigen, die bei uns die Armee ausmachen; ferner für Fräulein Hedwig von Taubenheim —«

      »Wer ist Fräulein Hedwig von Taubenheim?« fragte der Domherr.

      »Die Tochter des Generals von Taubenheim.«

      »Und in welcher Gefahr schwebt sie?«

      »Nicht Frau Geheimrätin von Schilden zu werden.«

      »Gisbertine, erzeigst Du mir jetzt einen Gefallen?«

      »Welcher wäre es?«

      »Ernsthaft zu sprechen und keine Kindereien zu treiben.«

      »Lieber Onkel, ich sprach sehr ernsthaft, wie Du Dich überzeugen wirst, wenn ich zur Sache komme, und was die Kindereien betrifft, so handelt es sich allerdings gegenwärtig noch um erwachsene Leute, obgleich doch auch mancher darunter sein wird, der noch nicht einmal Flaum am Kinn hat; ich denke mir aber nach dem Sprichwort: L’appétit vient en mangeant, dass die Zeit nicht fern liegen kann, wo auch Kindereien zum Beispiel Kindergärten und Kleinkinderbewahranstalten, den Staat in Gefahr bringen.«

      »Kommst Du zur Sache, Gisbertine?«

      »Ja. In den höheren Regionen der Hauptstadt sind zwei Strömungen. Die eine erkennt an, dass Staat und Thron durch Volk und Landwehr gerettet sind, und will volkstümliche Institutionen und darunter weitere Ausbildung des Landwehrsystems. Die andere will von dem allem nichts wissen, sieht darin künftig die Republik und jetzt Demagogie und Anarchie und will umso mehr zum Schutze des Throns und der Aristokratie die Armee heben und erhöhen. Der König will nur das Beste, und es kommt für jede der beiden Parteien darauf an, ihn für sich zu gewinnen. Der König ist misstrauisch; ich denke mir, alle Könige sind es; denn kein Mensch wird mehr betrogen als ein König. Er lebt dabei sehr eingezogen und zurückhaltend, schon seit dem Tode der Königin, die er über alles liebte. So erfährt er nicht, was im Lande geschieht, und es ist namentlich leicht, ihn mit Schreckbildern zu umgeben, und die führt man ihm nun in der Gestalt von demagogischen Umtrieben zu. Du hast das Wort noch nicht gehört, Onkel Florens?«

      »Nein.«

      »Es ist allerdings neu, und ich glaube, der Herr von Schilden und Fräulein