Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
Скачать книгу
Sie trug er auch in jener Gesellschaft. Dem Renommisten mochte sie ein Dorn im Auge sein, ein Vorwurf, dass er, der kräftige Großsprecher, zudem älter als der kleine und stille arme Theologe, keinem Feinde gegenübergestanden hatte. Er macht sich an den Theologen; er befühlt den Uniformrock; er will Witze darüber machen. Der stille Theologe in seiner gedrückten Lage hat nur ein Mittel: er entfernt sich, um weitern Reden zu entgehen, die ihn zu einem Duell hätten herausfordern müssen. Diese Geschichte erfährt gestern Abend zufällig Gisbert Aschen. Er kennt den Theologen nicht, er hat ihn vielleicht niemals gesehen, zum ersten Mal von ihm gehört. Er begibt sich sofort zu dem Renommisten und fordert ihn. Heute Vormittag um zehn sind sie zu dem Duell aus der Stadt gefahren. Wohin, ist nicht bekannt geworden. So erfuhr ich die Geschichte bei Tische. In diesem Augenblicke werden sie sich schon geschlagen haben: Ich fürchte, für Aschen wird es nicht gut abgelaufen sein. Sein Gegner ist der ausgezeichnetste Schläger, und er hat nie ein Rapier in die Hand genommen. Ich führe meinen Säbel und kann zur Not schießen, und ein Renommist will ich nicht werden — so pflegte er zu sagen, wenn man ihn zum Fechtboden mitnehmen wollte. Zum Glück geben diese Studentenduelle nur Schrammen.«

      »Hoffen wir es auch hier«, sagte Mahlberg.

      Der ernste Mann hatte sich unterdes gesammelt und er begann von selbst:

      »Jetzt von mir, Franz. Es ist anderes, Schwereres, als worüber wir sprachen. Auch Aschen hat wohl Schwereres aus dem Herzen, als was er heute bei dem Studentenduelle ausficht; aber es geht ihm nur an das Herz. Nur an das Herz? fragt mich Dein Blick. Höre mir zu, das, was ich Dir von mir zu sagen habe, trifft zugleich das Herz und die Ehre, trifft beide vernichtend.

      Du siehst, wie ich Dich liebe, dass ich es Dir erzählen kann.

      Ich arbeitete als junger Assessor bei der Regierung in Breslau. Ich lernte dort die Tochter eines Regierungssekretärs kennen, Agathe Fahrner. Ich hielt sie für einen Engel, sie war es; ja, sie war es dennoch.

      Wir liebten, wir verlobten uns. Sie wurde meine Frau, als ich Regierungsrat wurde. Wir lebten glücklich.

      Bald darauf brach der Krieg los. Ich folgte dem Rufe des Königs unter die Fahnen. Um mich zu belohnen, wurde ich, während ich im Felde war, mit erhöhtem Gehalte an die Regierung von Minden versetzt. In der Schlacht bei Leipzig hatte ich eine Wunde erhalten, die mich auf mehrere Wochen kampfunfähig machte. Es wurde mir daher ein Urlaub bewilligt, meine neue Stelle anzutreten. Gleichzeitig brachte ich meine Frau nach Minden. In Breslau war sie allein; ihr Vater war von da versetzt worden In Minden hatte ich einen treu bewährten Freund, dem ich sie anvertrauen durfte.

      So meinte ich.

      Ich kehrte zur Armee zurück. Wir hatten bald wieder schwere Kämpfe zu bestehen drüben in Frankreich. Mit meiner Frau konnte ich einen regelmäßigen Briefwechsel unterhalten. Ihre Briefe waren die liebevollsten. Sie wurden nach einiger Zeit sogar so sonderbar liebevoll; sie hatten den Ton einer Überschwänglichkeit, die ihrem einfachen, klaren Wesen bisher ganz fremd gewesen war und die deshalb umso mehr mich ängstigte. Ich schrieb ihr das zuletzt, und ich hatte ihren letzten Brief erhalten — die paar Zeilen, die sie mir später noch schrieb, waren kein Brief mehr. Ihr Schweigen war mir unerklärlich; meine Bemerkung hatte es nicht hervorrufen, hatte sie kaum verletzen können. Ich musste es eben mit jener Überschwänglichkeit in Verbindung bringen. Meine Angst verdoppelte sich. Ich schrieb an den Regierungsrat von Schilden — so hieß mein Freund, dem ich sie anvertraut hatte. Ich musste zum zweiten Male an ihn schreiben, ehe ich auch von ihm eine Antwort erhielt. Seine Antwort war dann, meine Frau sei verschwunden; er wisse weder wohin, noch warum. Sie sei schon seit längerer Zeit traurig, verstimmt, melancholisch gewesen, habe sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, niemand sehen wollen. Auch seine Besuche habe sie nur selten angenommen; seinen Tröstungen sei sie unzugänglich gewesen; was ihr fehle, habe sie ihm nie sagen wollen. Plötzlich, vor vier Wochen, sei sie verschwunden, und es habe ihm nicht gelingen wollen, irgendeine Spur von ihr zu entdecken. Weil er dies gehofft, habe er mir nicht sofort auf meinen ersten Brief geantwortet. Jetzt dürfe er mir die traurige Wahrheit nicht länger vorenthalten. Er fürchte, ihre unbegreifliche Melancholie sei zu einer förmlichen Krankheit ihres Gemüts geworden und habe die Kranke zum Selbstmorde getrieben.

      Soll ich Dir noch sagen, wie furchtbar mich jedes Wort dieses entsetzlichen Briefes traf? Was war es mit der Frau, die ich so innig liebte, die mir das treueste Weib gewesen war? Was hatte sie so traurig machen, was hatte ihre Melancholie bis zu solcher Krankheit steigern können? Aber war es denn so, wie der Freund mir schrieb? Konnte ich andererseits seine Mitteilung bezweifeln? War denn nicht Schilden mein ältester, mein treuester Freund, auf dessen bewährte Liebe und Freundschaft ich Häuser bauen durfte? Ich kannte ihn vom Gymnasium her; wir hatten zusammen die Universität besucht, zusammen unser Examen gemacht. Dann freilich waren wir auseinander gekommen, und erst in Minden hatten wir uns wieder getroffen. Aber er hatte mir ja immer nur das freundschaftlichste und offenste Herz gezeigt und selbst seine Fehler nicht vor mir verborgen, und ich hatte eigentlich nur einen Fehler an ihm erkannt, den eines, wie ich meinte, zu weit getriebenen Ehrgeizes.

      Was konnte ihn veranlassen, mir über meine Frau die Unwahrheit zu schreiben? Und was hätte es anderes sein können, als was er mir schrieb? Was aber war es denn eigentlich, was er schrieb?

      Ich konnte es nur an Ort und Stelle erfahren.

      Wir rückten am 31. März vorigen Jahres in Paris ein. Drei Wochen später flog ich nach Minden. Schilden war nicht da; er war auf einer Dienstreise begriffen. Ich erkundigte mich in dem Hause, in dem meine Frau gewohnt hatte, bei meinen andern wenigen Bekannten in Minden Ich erhielt die Bestätigung der Nachrichten, die mir Schilden mitgeteilt hatte; weiter nichts; meine Frau hatte eben seit Monaten vor ihrem Verschwinden keinen Menschen gesprochen, es hatte kein Mensch sie gesehen. Schilden hatte mir also auch die Wahrheit geschrieben. Hatte er? Ich musste ihn dennoch selbst sprechen. Ich reiste ihm nach; es dauerte lange, bis ich ihn fand. Er bearbeitete die Steuer- und Zollpartie bei der Regierung; da musste er die Grenzen der halben Provinz Westfalen bereisen. Endlich traf ich ihn. Aber er hatte mir alles geschrieben, was er wusste. Ein paar Einzelheiten konnte er noch beifügen; sie waren unbedeutend; sie gaben mir kein klareres Licht, keine weitere Spur. Er sprach mit seiner alten, treuen, freundschaftlichen Offenheit; er nahm einen so innigen Anteil an meinem Schmerz. Er war dennoch ein Verräter, der gemeinste, niederträchtigste Verräter!

      Ich suchte noch die Mutter meiner Frau auf. Sie wusste weniger als ich.

      Ich musste zur Armee nach Frankreich zurückkehren. Erst im Juni, nachdem der Pariser Friede geschlossen war, konnten wir wieder nach Deutschland marschieren.

      Ich trat meine Regierungsratsstelle in Minden an, und vierzehn Tage später erhielt ich einen Brief von meiner Frau.

      Er war ans dem kleinen westfälischen Städtchen Warendorf geschrieben. Er enthielt nur wenige·Worte; ich weiß sie auswendig:

      ‚Ich darf Dich nie wiedersehen; ich bin Deiner nicht mehr würdig. Ich wurde das Opfer des elendsten Verrats, der schmachvollsten Verführung. Ich konnte Dir nicht früher auf eine Weise schreiben, dass der Brief sicher in Deine Hände kam. Erst jetzt erfuhr ich Deine Rückkehr nach Minden; ich erfülle sofort die Pflicht der Wahrheit gegen Dich. Du wirst, Du kannst mich nicht aufsuchen wollen· Aber es wäre möglich — wer kann die Schicksale der Menschen vorher wissen? — dass Du einmal meiner bedürftest, dann erfrage mich bei dem Postmeister Feldmann in Warendorf.

      Agathe.‘

      Wer war der elende Verräter, der schändliche Verführer? Von meiner Frau durfte ich es nicht erfahren.

      Sie hatte Recht; ich durfte, ich konnte sie nie wiedersehen, nie wieder mit ihr in irgendeine Verbindung treten, ich möchte denn vorher ihre völlige Schuldlosigkeit ermittelt haben. Aber konnte sie schuldlos sein? Ist überhaupt eine Frau schuldlos, die sich verführen lässt? Und sie, sie hatte ihren Mann in täglicher, steter Lebensgefahr, sie hatte ihn im Kampfe für die heiligste Sache gewusst; sie hatte mir Briefe der zärtlichsten, der heiligsten Liebe geschrieben und doch und bei dem allem mich verraten, die Treue des Weibes gebrochen, die Ehre ihres Mannes geschändet!

      Und wer der Verräter, der Verführer war?

      Ich suchte noch einmal den Regierungsrat von Schilden