Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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      Auf dem Tanzplatze fielen freilich andere Urteile.

      Die Abwesenheit des Paares, das die Seele der Partie war, hatte eine gewisse Leere und Stille hervorgebracht; als der Tanz beendigt war, wollte kein zweiter beginnen. Die Herren, ein paar pausbäckige hessische Landjungen, der schmächtige Sohn der Kaufmannsfrau aus Braunschweig und so weiter, hatten nicht die Lust oder das Zeug, etwas anzufangen. Die jungen Damen saßen verdrießlich bei den Müttern.

      »Das Fräulein von Aschen scheint unglücklich zu sein, Mütterchen«, sagte die lange braune Comtesse Leontine Viereck zu ihrer langen, dürren Mutter.

      »Sie kommt mir vor, als wenn sie eine unglückliche Liebe hätte«, sagte ihre Schwester, die graue Comtesse Adelgunde.

      Die Mutter der beiden jungen Damen zuckte mitleidig die Achseln.

      »Dieses Fräulein Gisbertine oder Gisbertinchen ist eine eigensinnige Prise, der anstatt einer unglücklichen Liebe im Kopfe und im Herzen — wenn sie ein Herz hat — nur Launen und Capricen sitzen.«

      »Ach liebe Mama, dann bedaure ich den armen Grafen Westernitz; er scheint sie so innig zu lieben.«

      »Der Graf Westernitz, mein Kind, ist ein eitler Narr, der nur sich lieben kann.«

      »Aber er kann doch so reizend arrangieren.«

      »Unsere Herren werden es auch noch können.«

      So war es. Die jungen Herren ans Kassel, Braunschweig und so weiter hatten die Köpfe zusammengesteckt, Mut gefasst, einen Galopp bestellt und flogen nun im Galopp, ihre Damen zu engagieren.

      Fräulein Gisbertine von Aschen saß unterdes auf ihrem Weidenstumpf und hatte das Ohr hinuntergeneigt zu dem Rauschen des Flusses unter ihren Füßen und das Auge emporgerichtet zu den hohen Bergen, die sich unmittelbar ihr gegenüber an der andern Seite des Flusses erhoben. Ihre Gedanken mochten ganz wo anders hin schweifen. Sie saß lange so und ihre Augen wurden trübe und ihre Brust bewegte sich.

      Es nahte sich ihr jemand.

      Der Graf Westernitz hatte ihr doch folgen müssen, trotz ihres Verbotes.

      »So tief in Gedanken, gnädiges Fräulein?«

      »Wie Sie sehen.«

      »Und darf man erfahren, was Sie beschäftigt?«

      »Ich dachte darüber nach, warum wohl diesseits dieses Flusses Hessenland und drüben Westfalenland sei. Können Sie mir Auskunft darüber geben, Herr Graf?«

      Der Graf sann darüber nach.

      »O weh«, sagte das Fräulein. »Aber geben Sie sich keine Mühe, lieber Graf; wir lösen das Problem ein andermal. Kehren wir zu der Gesellschaft zurück, tanzen wir wieder.«

      Sie erhob sich, sie nahm seinen Arm und wollte gehen.

      Ein Geräusch hinter ihnen hielt sie zurück. Sie sahen sich um. Ein Wagen fuhr in die Schlucht, nicht auf der Seite von Hofgeismar her, sondern gerade auf der entgegengesetzten, von der der Fluss kam und der Weg aus dem benachbarten preußischen Westfalenlande führte.

      Es war eine einspännige Bergchaise, hübsch, bequem; ein kleiner Kutscher in Livree lenkte sie; zwei Damen saßen im Fond; ein Herr saß ihnen gegenüber, er freilich nicht besonders bequem.

      »Der Onkel Florens!« rief das Fräulein Gisbertine.

      »Und mit zwei jungen Damen? Und sie sind schön, seine Begleiterinnen, wenn auch die eine etwas gar zu jammervoll blass aussieht. Aber was will er mit ihnen hier? Sie zu unserm Tanzvergnügen herführen? Hm!«

      .Der Domherr hatte sie gesehen; sie ging dem Wagen entgegen, mit dem Grafen.

      »Werde ich nicht stören?« hatte der Graf sie gefragt.

      Ihre Antwort war ihr eigentümlich bestimmtes Nein!

      Der Domherr hatte den Wagen halten lassen, war ausgestiegen und hatte die beiden Damen herausgehoben.

      »Du führst uns liebenswürdige Gesellschaft zu, Onkel Florens!« sagte Fräulein Gisbertine. »Das ist reizend von Dir.«

      »Hm«, erwiderte der Domherr, »zu Dir führe ich die Damen eigentlich nicht; ich kann Dich aber mit ihnen bekannt machen, wenn Du es wünschest.«

      »Ich bitte darum«, musste Fräulein Gisbertine sagen.

      Welche andere Antwort mochte sie von den Lippen zurückdrängen müssen!

      Und darauf stellte der Domherr gar sie zuerst seinen Begleiterinnen und dann erst diese ihr vor.

      »Meine Nichte, Gisbertine von Aschen! — Mamsell Karoline Lohrmann — Madame Mahler!«

      Mamsell, Madame! Dazu unbekannte Namen! Das Fräulein Gisbertine von Aschen oder, wie der Domherr sie auch wohl nannte, Dame Gisbertine wollte doch die Nase rümpfen.

      »Hast Du die Kellnerin hier kennengelernt?« fragte der Domherr sie.

      Das war dem Fräulein wohl gar zu viel.

      »Ich bin nicht die Freundin von Kellnerinnen«, fuhr sie stolz heraus.

      »Sie heißt Henriette Brandt« sagte der Domherr.

      »Meinetwegen!«

      »Hm! Gisbertine, Du musst sie kennenlernen. Ich führe diese Damen zu ihr. Du kannst uns begleiten.«

      »Ich danke.«

      »Danke nicht. Soll ich Dir sagen, warum ich diese Damen zu der Kellnerin führe?«

      Fräulein Gisbertine durfte als Dame von Welt nicht nein sagen. Sie verhielt sich leidend und schweigend.

      »Ich war vor ein paar Stunden schon hier«, fuhr der Domherr fort. »Wenn Du willst, in Deinem Auftrage, um Dich und Deine Gesellschaft anzumelden. Ich machte von hier meinen weiteren Weg durch das Gebirge zu Fuß und musste zu dem Zwecke mich über den Fluss setzen lassen. Dabei begegnete ich einem Offizier, der gerade mit einem Auftrag vom Kriegsschauplatze aus dem Quartier kam, und zwar unmittelbar nach einer verlorenen Schlacht. Die Unsrigen haben die Schlacht verloren, Gisbertine, und sie haben, wie der Kurier mir sagte, furchtbare Verluste erlitten. Ich konnte mit dem Mann nur einige Worte wechseln, denn er hatte eilig; er musste bei Zeiten in Kassel sein; er hatte den Umweg über die Sägemühle gemacht, um jener Kellnerin einen Brief von ihrem Bräutigam, einem Offizier Blüchers, zu überreichen und ihr von ihm zu erzählen. Das erzählte ich nun meinem liebsten Kinde, meiner Pflegetochter Karoline hier und —«

      Fräulein Gisbertine musste die Mamsell Karoline Lohrmann auf die Worte des Domherrn ansehen.

      Das schöne Mädchen war einen Augenblick rot geworden, aber nicht verlegen. Die Röte des Gesichts zeigte nur das Glück ihres Herzens und erhöhte ihre Schönheit. Sie stand mit so freiem, edlem Anstande da wie eine Fürstin .und doch so natürlich, so einfach wie die Mamsell Karoline Lohrmann!

      So sah Fräulein Gisbertine sie, und sie musste zu ihr hinaufsehen; denn die Mamsell war größer als das Fräulein, eine hohe, edle Gestalt, und auch schöner war sie, zumal in ihrer einfachen, stillen, klaren Ruhe. Mit welchen Gefühlen Fräulein Gisbertine sich das alles sagen oder nicht sagen mochte — wer kann Herz und Nieren einer stolzen, eigensinnigen, launischen Dame ergründen? Eins mochte sie sich vielleicht sagen, dass Adel, auch alter Adel, allein es nicht tue.

      »Und«, fuhr der Domherr fort, »als ich der Karoline das erzählt, da hatte sie keine Ruhe mehr, ich musste mit ihr und der Frau Mahler hierher fahren; sie musste von der Kellnerin selbst Näheres hören, was der Bräutigam ihr geschrieben, was der Kurier ihr mitgeteilt hatte. Auch sie hat einen Bräutigam in der Blücher’schen Armee.«

      Indem der Domherr das sagte, sah er seine Nichte so sonderbar an.

      Sie musste die Augen niederschlagen.

      »Nicht wahr, Du begleitest uns, Gisbertine?« sagte der Domherr.

      »Wenn Du es erlaubst, Onkel Florens.«

      Sie gingen zu dem Wirtshause.