Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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bis ich diese Menschen genauer kennen gelernt hätte. Aber was ist an ihnen genauer kennen zu lernen? An dieser langen, steifen Gräfin Viereck mit ihren beiden ebenso langen Töchtern, die selbst aussieht wie eine Hopfenstange mit einer Hahnenfeder obenauf und deren Töchter langen Reiherfräuleins gleichen, Comtesse Leontine einem braunen und Comtesse Adelgunde einem grauen! Ein richtiges Reiherweibchen oder Fräulein hat nur bessere Farben. Oder sollte sich mein mitleidiges Herz an jenes blasse alte Fräulein Emerentia von Gansauge schmiegen, die mich schon gleich in der ersten Viertelstunde heute Morgen in Beschlag nahm, um mir von den Qualen eines liebenden Herzens zu erzählen, das dahinten in dem wilden grausamen Schlachtengetümmel seinen Geliebten wisse? Ich sollte glauben, es sei ihr Herz, und sie ist so alt und welk und hässlich, dass ich schwöre, sie könnte nicht einmal mehr für einen Don Quixote als Dulcinea dienen. Aber ah, der Graf von Westernitz ist noch da, und er ist gar ein Gardelieutenant und die Husarenuniform sitzt ihm so superbe, und sein Gesicht ist so blass und er hüstelt so anmutig, und er ist so unglücklich, dass seine kranke Brust ihn hindert, an dem gegenwärtigen glorreichen Feldzuge, an den unsterblichen Taten und Siegen unserer Truppen teil zu nehmen, und doch ist er wieder so glücklich, und er könne es so stolz sagen, und er sagt es so bescheiden, dass er dieses Brustleiden nur Anstrengungen und Strapazen der vorjährigen Kampagne zu verdanken habe; in den Sümpfen und Morasten vor Laon habe er es sich geholt. Und als ich ihn dann fragte, ob er die Schlacht bei Laon noch habe mitmachen können, da durfte er mir doch stolz antworten, das sei eben sein Unglück gewesen, dass am Tage dieser Schlacht die Fieber ihn schon niedergeworfen hatten, so dass er an ihr keinen Teil nehmen durfte. Aber am Tage nachher oder noch am späten Abend der Schlacht habe er den ruhmvollen Auftrag erhalten, die Siegesbotschaft in die Heimat zu bringen, was ihn freilich den ferneren Kämpfen entzogen, aber doch in Anbetracht, dass er ganz allein durch feindliches Land habe ziehen müssen, was sehr gefährlich für ihn gewesen sei, ihm später das eiserne Kreuz eingebracht habe.

      Aber ich sehe, Du wirst ungeduldig, Onkel Steinau.

      Ist der Graf Westernitz in seiner Bescheidenheit zu weit hinter der Wahrheit zurückgeblieben? Hat er sich viel leicht um jener Siegesnachricht willen durch die ganze französische Armee hindurchschlagen müssen?«

      Der alte stramme General hatte in der Tat Ungeduld gezeigt und wagte jetzt sogar eine Bemerkung, die herb, obwohl in milde Worte eingekleidet war. Die Nichte musste harte Worte für ihn gesprochen haben.

      »Ich wünschte, liebe Gisbertine«, sagte er, »dass Du von einem Offizier der Armee mit ein wenig mehr Achtung sprächest. Du hast ja ein so gutes Herz, und ein gutes Herz sollte immer nur ein mildes Urteil haben.«

      Fräulein Gisbertine schwieg auf die Bemerkung, sie mochte an dem alten General eine Seite kennen, nach der hin sie ihm nicht widersprechen durfte.

      Sie wandte sich an den Domherrn.

      »Soll ich in meinen Crayons über Deine interessante Gesellschaft fortfahren, Onkel Florens?«

      »Wenn es Dir Vergnügen macht!«

      »So fallen mir zuerst die beiden schweren und mit schweren goldenen Ketten beladenen alten Damen ein. Sie sind wohl Bankiersfrauen ans Kassel oder Braunschweig?«

      »Kaufmannsfrauen, die eine aus Kassel, die andere aus Braunschweig.«

      »Also bürgerlich?«

      »Hättest Du sie lieber adlig?«

      »Fi donc, eine adlige Kaufmannsfrau!«

      Dann schwieg das Fräulein. Sie versank in Nach denken.

      Der General hob die Tafel auf.

      »Gehen wir in den Garten?« fragte er.

      Er nahm seine Krücken.

      Sie gingen zusammen in das Gärtchen, in dem das Haus lag.

      Der General suchte dort eine schattige Laube auf, um darin seinen Mittagsschlaf zu halten.

      »Pflegst Du auch nach Tische zu schlafen?« fragte der Domherr das Fräulein.

      »Nein«, antwortete sie auf die boshafte Frage.

      »So huldige mit mir einem weisen Domherrnspruche.«

      Sie erwiderte ihm nichts. Sie schien plötzlich böser Laune geworden zu sein. Warum? Wer darf bei Damen nach dem Warum ihrer Laune fragen?

      Der Domherr achtete nicht darauf.

      »Du fragst mich nicht nach dem weisen Spruche?«

      Sie antwortete wieder nicht.

      »So höre ihn ohne Frage: Post coenam stabis aut passus mille meabis; das heißt auf Deutsch: Nach der Tafel wirst Du stehen oder langsam tausend Schritte gehen — und es hilft zur Verdauung. Gehen wir die tausend Schritte.«

      Das Fräulein setzte sich zur Antwort auf eine Bank, die in der Nähe stand.

      Der Domherr setzte sich zu ihr, und dann sprach er zu ihr:

      »Gisbertine, wie ist es denn? Macht der Mensch dem Herzen Vorwürfe oder das Herz dem Menschen?«

      Das Fräulein antwortete:

      »Onkel Florens, überlassen wir das den Menschen und den Herzen, die sich Vorwürfe zu machen haben.«

      »Hm, Gisbertine, welcher Mensch hätte sich keine Vorwürfe zu machen?«

      »Da hast Du ja selbst Deine Frage beantwortet, Onkel!«

      »Ah, der Mensch mache sich selbst die Vorwürfe, meinst Du? Nun, Du kannst Recht haben. Das Gewissen ist es doch am Ende, was dem Menschen die Vorwürfe macht, und das Gewissen ist der Mensch selbst, nämlich der bessere Mensch.«

      »So sagt man ja wohl.«

      »Gisbertine, in Deinem Briefe, der mich hierher rief, stand, dass Du Dich sehntest, mich wiederzusehen.«

      »Ich glaube, so stand darin.«

      »Und so schrieb wohl die bessere Gisbertine an mich.«

      »Und die schlechtere hast Du hier gefunden?«

      »Gisbertine, hast Du mir noch immer nichts zu sagen?«

      »Nein!«

      »Von Gisbert, von Deinem —«

      »Sprich den Namen nicht aus!« fuhr das Fräulein auf, heftig, glühend rot, dann leichenblass in dem schönen Gesichte.

      »Ah«, sagte der Domherr. »Ah, darf Dein Herz oder Dein Gewissen den Namen nicht hören?«

      Sie zuckte die Achseln, wie verächtlich.

      »Ich sagte Dir, dass ich einen Brief aus Namur von ihm hatte«, fuhr der Domherr fort.

      »Du sagtest es.«

      »Und dass er eine Schlacht erwarte.«

      »Ich glaube.«

      »Die Schlacht ist im Gange, Gisbertine.«

      »Hättest Du Nachrichten über sie?«

      »Ja. Erinnerst Du Dich unserer westfälischen Heiden noch, Gisbertine?«

      »Der Langeweile erinnert man sich lange.«

      »Sie haben auch ihre Unterhaltung, diese Heiden. Man sieht zum Beispiel weit und man hört auch weit auf ihnen. Und mit dem Hören auf ihnen ist es eigen, man hört es tief unten und es ist doch oben. So fuhr ich gestern in der Frühe des Morgens über die Heiden zwischen dem Rhein und dem alten Münster. Da sah ich Menschen, die schon mit dem Aufgange der Sonne zur Arbeit ausgezogen waren. Aber sie arbeiteten nicht, sie lagen mit dem Ohr an der Erde und horchten in die Tiefe hinein. Es waren die Männer, die horchten. Die Frauen standen mit bleichen Gesichtern dabei und drückten die Kinder an die bebenden Herzen.

      ‚Was habt Ihr da, Ihr Leute?‘ fragte ich.

      ‚Die Unsrigen schlagen sich mit den Franzosen, Herr!‘

      ‚Wie?‘

      ‚Steigen Sie aus, so können Sie es hören.‘