Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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waren nahe bei der Laube, nahe bei dem ehemaligen hübschen großen Rekruten, von dem der Domherr sprach und sprechen wollte.

      Aber er konnte es nicht mehr. Er konnte dem alten lahmen, tapferen Krieger, der auf den zwei Krücken mühsam neben ihm herging, nicht wehe tun. Sein gutes Herz konnte wohl überhaupt nicht wehe tun, wenn es nicht notwendig sein musste.

      »Vetter Steinau«, sagte er, »kehren wir doch lieber um. Gisbertine möchte wohl heute nicht mehr tanzen wollen, nach den neuesten Nachrichten, die sie dort vom Kriegsschauplatze erhielt.«

      »Wie, vom Kriegsschauplatze?« rief der General.

      »Freilich! Gerade vor zwei Stunden war ein Kurier, der gestern Abend aus dem Blücher’schen Hauptquartier abgegangen war, hier bei —«

      »Vetter Aschen!« rief der General. »Und das erfahre ich jetzt erst?«

      »Ich wollte es Ihnen schon früher sagen, Vetter Steinau. Aber wir kamen durch die Landwehr davon ab.«

      »Erzählen Sie!«

      Der Domherr teilte dem General mit, wie der alte Blücher den Kurier abgeschickt hatte und was dieser an der Sägemühle erzählt hatte, auch von dem Kellner und der Kellnerin.

      Die Erzählung machte aber auf den General nicht den Eindruck, den der Domherr von ihr erwartet oder vielleicht auch nicht erwartet hatte.

      »Vetter Aschen«, sagte der General, »ich habe eine Bitte an Sie.«

      »Sie wäre, Vetter Steinau?«

      »Sprechen wir zu niemand davon, dass die Person, die Kellnerin, einen preußischen Offizier zum Bräutigam hat.«

      »Sie haben Recht!« erwiderte der Domherr. »Es schützt das Mädchen gegen überlästige Neugierde.«

      Dann aber sah man dem geistlichen Herrn doch an, wie es ihn innerlich wurmte, wie das Herz sich ihm krümmte. Er musste sich wieder nach dem lahmen Schullehrer umsehen. Aber —

      »Nein, nein!« sagte sich der Domherr noch einmal.

      »Diese verlorene Schlacht drückte ihn ohnehin genug. Fängt er aber noch einmal an, dann —«

      Der General fing noch einmal an. Die verlorene Schlacht drückte ihn gar zu sehr.

      »Also der alte Blücher hat retirieren müssen! Das ist ein schwerer Jammer.«

      »Ja, Vetter Steinau, und der alte Herr war noch mitten auf der Retirade, als der Kurier ihn verließ.«

      »Es ist ein großes Unglück für die Armee, Vetter Aschen!«

      »Gewiss! Aber warum fingen wir diesen Krieg an?«

      »Was, Vetter?« rief der General.

      »Wozu dieser Krieg, meine ich, Vetter Steinau. Die Feldzüge von 1813 und 1814 mussten sein; sie haben Deutschland von dem Joche der französischen Fremdherrschaft befreit. Aber dieser gegenwärtige Heereszug nach Frankreich, was geht der die deutsche Freiheit, das deutsche Volk an? Gar nichts. Das Blut, das jetzt jenseits des Rheins vergossen wird, das strömt nur einerseits für das Interesse der Engländer, die ein Frankreich unter einem Napoleon, aber niemals unter den Bourbonen zu fürchten haben, und andererseits für Interessen, die gerade gegen das Volk gerichtet sind; in erster Linie gegen das französische Volk, das von einem Regiment der Bourbonen nichts mehr wissen will und nichts mehr wissen kann; in zweiter — hm, Vetter Steinau, ich muss Ihnen die Wahrheit sagen, sie trifft ja mich ebenso wohl wie Sie. Napoleon wird jetzt nie wieder daran denken, seine Herrschaft noch einmal über den Rhein tragen zu wollen; aber er und das neufranzösische Wesen sind der Feind, der Tod aller Privilegien, durch die das Volk gedrückt und niedergehalten wird, und absonderlich unserer Adelsprivilegien, die von den Bourbonen ebenso sehr geschützt werden. Soll ich es Ihnen noch deutlicher machen, wofür jetzt gekämpft wird, wofür der alte Blücher gestern geschlagen ist?«

      »Er wird heute wieder gesiegt haben«, rief der General.

      »Hoffentlich morgen, Vetter Steinau, denn heute ist Waffenruhe.«

      »Sie wünschen uns also doch den Sieg?«

      »Alle Wetter, Vetter Steinau! Der Krieg ist einmal angefangen, darum müssen wir siegen. Aber warum hat man ihn angefangen? Es war zwar kein Verbrechen, aber eine Verblendung, und freilich ist diese Verblendung von demselben Volke ausgegangen, das nun gegen sich selbst kämpft. Ja, Vetter Steinau, gegen sich selbst, für den Adel, das Junkertum, die Aristokratie.«

      »Für das Königtum, Vetter Aschen«, sagte der General.

      »Das wird den Leuten vorgeredet, Vetter Steinau. Das Königtum ist für sich allein nichts; es muss von irgendetwas getragen werden. Es gab eine Zeit, wo es bloß von der Idee getragen werden konnte, die Zeit ist vorüber; es war die Idee des Gottesgnadentums; der Kaiser Napoleon, der Könige ein- und absetzte wie Dorfschulzen, hat sie zuletzt vollständig und für immer zu Grabe getragen. Da kann das Königtum sich nur noch entweder auf das Volk oder auf einzelne privilegierte Klassen oder Kasten, die nicht im Volke stehen wollen, auf die Aristokratie stützen. Die Aristokratie aber ist eben vermöge ihres Begriffs, den ich angab, der größte Feind des Volkes. Wollen Sie noch mein Ergo, Vetter Steinau?«

      »Hm, Vetter Aschen«, sagte der General, »Sie sprechen heute verzweifelt gelehrt. Nun kommen Sie gar mit Latein. Da hört das Disputieren für einen alten Soldaten auf. Und da kommt auch Gisbertine aus der Laube. Begleiten wir sie zu dem Rasenplatze dort.«

      »Zum Tanzplatze, Vetter Steinau? Heute?«

      »Es wäre freilich besser, wenn sie heute nicht mehr tanzte«, meinte der General.

      Aber gegen die Nichte diese Meinung laut werden zu lassen, wagte er nicht.

      Die schöne Gisbertine kam nachdenklich aus der Laube zu den beiden alten Herren.

      »Wohin, Gisbertine?« fragte der Domherr sie.

      »Zum Tanze.«

      Sie sprach es ganz in jener halb kecken, halb gleichgültigen und nachlässigen Weise, die sie so sehr liebte.

      »Ich wünsche Dir viel Vergnügen«, sagte der Domherr.

      Er wollte zu den Frauen in der Laube zurückkehren.

      »Einen Augenblick, Onkel Florens!« hielt ihn Gisbertine zurück. Er blieb.

      Von dem Tanzplatze her kam der schöne Gardelieutenant Graf Westernitz; er hatte das schöne Fräulein aus der Laube zurückkommen sehen.

      »Kann ich endlich wieder das Glück haben, gnädiges Fräulein?« bot er ihr seinen Arm an.

      Sie sah ihn verwundert an, als wenn sie ihn zum ersten Male in ihrem Leben sähe.

      »Wie? Ich sehe die preußische Uniform hier und nicht vor dem Feinde?«

      Der Offizier warf einen Blick aus die Uniform des Generals. Er wagte aber nicht, das auszusprechen, was er damit sagen wollte.

      Der General sagte es.

      »Du siehst ja auch mich hier in dieser Uniform, Gisbertine!«

      »Auf zwei Krücken!« rief das Fräulein.

      Der Graf Westernitz verbeugte sich schweigend und ging.

      Der General runzelte die Stirn.

      »Du hast einen Offizier der Armee beschimpft!«

      »Lieber Onkel«, sagte Gisbertine, »es würde Dir keine Freude machen, wenn wir noch länger hier blieben?«

      »Wahrlich nicht!«

      »Dürfte ich Dich dann bitten, unsern Wagen zu bestellen? Der Graf Westernitz soll morgen seine Genugtuung haben«

      Der gehorsame Onkel ging; den Wagen zu bestellen.

      Gisbertine konnte sich nicht länger mehr halten.

      »Komm, komm, Onkel Florens!« rief sie. »Eilen wir!«

      Sie sprach es mit so