Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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stand.

      Der Offizier zog unter seiner Uniform eine kleine verschlossene Tasche hervor, schloss sie auf, nahm einen Brief heraus und übergab ihn der Kellnerin.

      Ihre Hände konnten das Papier kaum halten. Sie wollte es öffnen, sie zerriss es fast. Aber lesen konnte sie es nicht.

      »Er lebt?« fragte sie nur den Offizier.

      »Er lebt und ist frisch und munter.«

      »Bernhard, lies Du«, sagte sie zu dem Knaben.

      Sie gab ihm den Brief.

      Es flimmerte ihr wohl vor den Augen.

      Der Knabe wollte den Brief lesen, da rief die Köchin nebenan in der Küche des Hauses:

      »Henriette, der Kaffee ist fertig.«

      Und der diensttreuen Kellnerin flimmerte es nicht mehr vor den Augen.

      »Ich komme«, rief sie zurück.

      Sie nahm dem Knaben den Brief wieder aus der Hand; der Brief des Geliebten war ihr ein Heiligtum; der treue Freund ihrer Kindheit hätte ihr ihn wohl vorlesen dürfen, aber allein durfte er ihn nicht lesen.

      Sie steckte den Brief in den Busen, eilte in die Küche und kam mit dem Kaffee zurück.

      Da fiel ihr eine andere Pflicht ein. die sie vergessen hatte.

      »O mein Herr«, sagte sie zu dem Offizier, »werden Sie mir nicht böse, dass ich Sie hier so stehen lasse. Ich bin im Augenblick wieder da.«

      »Der Dienst geht vor«, lächelte der Offizier.

      Sie eilte mit dem Kaffee zu den Juden.

      Aber sie konnte nicht im Augenblick zurück sein.

      »Was sind wir schuldig, Jungfer?« fragte Aaron Levi.

      Und sie konnte in all ihrer Herzensangst und Herzensfreude und Herzensverwirrung den Juden die richtige Rechnung machen und diese aufrechthalten und verteidigen, als Aaron Levi in seiner Weise ihr Einwendungen und Abzüge machen wollte, und auch das Geld, das der Jude ihr gab, zählte sie genau nach und besah es Stück für Stück, ob es auch echt sei; denn, las man in ihrem Gesichte, diese Schmuggeljuden führen gern falsches Geld bei sich.

      Aber dann flog sie zu dem Hause zurück, und hier musste sie zuerst in ihr Stübchen gehen, um den Brief des Geliebten still und allein für sich zu lesen.

      Als sie wiederkam, lag in ihrem hübschen Gesichte eine so selige, heilige und demütige Freude.

      Sie ging zu dem Offizier, der auf einer Bank vor der Tür saß.

      »Nun?« fragte er sie.

      »Er lebt!« sagte sie.

      »Er hat Ihnen auch mitgeteilt, wie er Offizier geworden ist?«

      »Sie würden es mir erzählen, schreibt er. Aber lassen Sie mich Ihnen vorher meinen Dank sagen, dass Sie den beschwerlichen Umweg hierher zu mit gemacht haben.«

      »Liebe Mamsell«, sagte der Offizier, »einem so braven Kameraden, wie Ihr Bräutigam ist, zu Liebe macht man schon einen kleinen Umweg, und nun ich Sie gesehen habe, wünsche ich mir deshalb Glück. Hören Sie jetzt, was ich Ihnen erzählen soll. Es war gestern ein heißer Tag. Schon vorgestern hatte es angefangen. Aber das war nur ein kleines Vorspiel. Gestern Nachmittag um drei Uhr fing der rechte, furchtbare Kampf an. Es war bei dem Dorfe Ligny und den benachbarten Dörfern.

      Napoleon warf Massen auf Massen gegen die Preußen.

      Die Preußen unter Blücher hielten ihnen Stand; ich war in dem Hauptquartier des alten Helden. Es wurde mit Verzweiflung gekämpft. Bis fünf Uhr hatten die Franzosen noch keinen einzigen Vorteil gewonnen. Da führte Napoleon seine ausgeruhten Garden in die Schlacht.

      Blücher hatte ihm nur seine ermüdeten Soldaten entgegenzustellen. Er hatte das Bülow’sche Corps erwartet; es kam nicht. Da war der Kampf kein gleicher mehr. Zwanzigtausend Preußen bedeckten das Schlachtfeld. Blücher musste sich zurückziehen. Die französischen Kürassiere drangen unaufhaltsam vor. Er warf sich ihnen persönlich entgegen mit tausend Reitern, die er noch schnell zusammenbringen konnte. Mit seinem Pferde stürzend, wurde er zwar vor der Gefangenschaft gerettet, durch ein Wunder fast, aber die Schlacht war verloren. Und in allem diesem Gewühl und Schrecken und in den eigenen Gefahren, die ihm drohten, hatte der tapfere Feldherr das Einzelne nicht übersehen. So auch nicht, wie ein junger Landwehr-Unteroffizier durch eine Tat der Kühnheit und der Geistesgegenwart ein ganzes Bataillon rettete. Das Bataillon hatte Befehl erhalten, durch einen Hohlweg zu marschieren, um auf dessen anderer Seite auf eine französische Truppe loszubrechen. Als die Leute auf dem Wege sind, gewahrt sie eine Eskadron französischer Lanciers. Wie ein Blitz fliegt die ganze Eskadron, der Chef an der Spitze, nach dem Wege. Sie wollen die Menge, die in dem tiefen, engen Wege sich nicht verteidigen, sich kaum rühren kann, überreiten, umzingeln, niederstechen, niederhauen. Hundert Schritt davon ist ein Bataillon des fünfzehnten Landwehrregiments im Gefecht mit den Franzosen. Eine Kompanie ist vorn Feinde durchbrochen. Ein Unteroffizier kommandiert die eine Hälfte, der Unteroffizier Becker. Zwei Offiziere waren schon gefallen: der mutige Hauptmann der Kompanie, der sich zu weit vorgewagt hatte, war von den Franzosen umzingelt und gefangen genommen worden. Der Unteroffizier Becker sucht sich mit der andern Hälfte der Kompanie wieder zu vereinigen. Da sieht er die französischen Lanciers nach dem Hohlwege fliegen; er sieht in dem Wege die Spitzen der Bajonette der Preußen. Er gewahrt die Absicht der Franzosen und gibt seinen Plan der Vereinigung mit seiner Kompanie auf. ‘Mir nach, Jungen!’ ruft er. Sie rennen nach dem Hohlwege. Sie werden nicht verfolgt, da die Franzosen genug mit den andern zu tun haben. Dem Hohlweg zur Seite ist ein Gebüsch. In dieses wirft sich Becker mit seinen Leuten.

      Verborgen von dem Strauchwerk erwartet er die Lanciers. Er lässt sie ganz nahe herankommen. Auf einmal stürzt er hervor. Seine Leute geben eine, zwei, drei Salven. Er selbst war auf den Chef der Eskadron zu gesprungen, hatte sein Gewehr auf ihn abgeschossen, ihn verwundet, dass er auf dem Pferde schwankte. Die ganze Eskadron kam in Verwirrung, glaubte wohl das ganze Gebüsch besetzt und macht kehrt, bevor die dritte Salve gegeben war. Das preußische Bataillon war gerettet.

      Der alte Blücher hatte es mit seinen scharfen Augen von weitem gesehen und ein Adjutant musste zu dem mutigen und entschlossenen Unteroffizier fliegen und ihn mit seinem Häuflein zu dem Feldmarschall entbieten, und als sie bei ihm ankamen, fragte er den Unteroffizier: ‘Unteroffizier, wie heißt Er?’ Und als der Unteroffizier seinen Namen genannt hatte, rief der General: ‘Jungen, folgt Eurem Lieutenant!’ Und zu Becker sagte er: ‘Lieutenant Becker, führen Sie ferner Ihre Leute so tapfer und so klug!’ Ich war dabei, Mamsell, als es geschah, mit einer Menge von Offizieren. Und allen schlug das Herz höher. Mit einem Hurra flogen der Lieutenant Becker und seine Leute in den Kampf zurück. Bald darauf mussten wir retirieren. Alle Wunder der Tapferkeit, welche die braven Preußen verrichteten, hatten den Sieg nicht erringen können. Als der Feldmarschall unrettbar die Schlacht verloren sah, schickte er nach allen Seiten Kuriere ab, um zu melden, was geschehen sei und was in den nächsten Stunden und Tagen geschehen solle, damit das Gerücht nicht übertreibe und keine Mutlosigkeit eintrete. Denn die Hoffnung und den Mut gibt der alte Blücher nimmer auf, und der Sieg wird ihm doch zuletzt bleiben Mich sandte er zu meinem Kurfürsten nach Kassel, um zugleich zu melden, wie die Hessen in dem heißen Gefecht bei Quatrebras sich brav gehalten haben. Als ich abreisen wollte, traf ich noch einmal den Lieutenant Becker. Es war ihm gelungen, sich mit seinem Regimente wieder zu vereinigen. Er hörte von meinem Auftrage. Da kam er an mich heran.

      ‘Nehmen Sie ein Zettelchen für mich auf den Weg nach Kassel mit?’

      ‘Mit Freuden, wenn es mich nicht zu lange aufhält.’

      ‘Es wird nicht.’

      Er nannte mir die Dahlheimer Sägemühle, beschrieb mir den Weg dahin, nannte mir Sie, setzte sich an die Trommel eines Tambours, nahm aus seiner Brieftasche ein Blatt Papier und eine Bleifeder, und in drei Minuten war das Billett fertig. Er war schnell in allem, zu schreiben wie den Feind einzugreifen und niederzuwerfen.« ,

      Der Offizier schloss seine Mitteilung.

      »Er