Am andern Tag begleitete Nikolai seinen Freund Denissow, welcher keinen Tag länger in Moskau bleiben wollte. Alle seine Freunde in Moskau gaben ihm das Geleit und Denissow erinnerte sich später nicht mehr, wie er in den Schlitten gelegt und noch drei Stationen weit begleitet worden war.
Rostow blieb noch zwei Monate in Moskau, in Erwartung des Geldes, welches der alte Graf nicht so schnell anschaffen konnte. Während dieser Zeit verließ er das Haus nicht. Sonja war zärtlicher und hingebender gegen ihn als früher, aber Nikolai hielt sich jetzt für ihrer unwürdig. Er beschrieb die Alben der Mädchen mit Gedichten und Noten. Nachdem endlich die dreiundvierzigtausend Rubel an Dolochow gegen Quittung abgesandt waren, reiste er, ohne von seinen Bekannten Abschied zu nehmen, Ende November zu seinem Regiment ab, welches schon in Polen stand.
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Nach dem Bruch mit seiner Frau fuhr Peter Besuchow nach Petersburg. Auf der Station Torshok waren keine Pferde zu haben und Peter mußte warten. Ohne den Pelz abzulegen, warf er sich auf einen ledernen Diwan vor einem runden Tisch, legte seine großen Füße mit den Pelzstiefeln auf den Tisch und versank in Nachdenken.
»Befehlen Sie, die Koffer hereinzubringen, ein Bett zu machen? Wünschen Sie Tee?« fragte der Kammerdiener. Aber Peter gab keine Antwort, weil er nichts sah und hörte. Es war ihm alles gleichgültig, ob er früher oder später in Petersburg ankommen werde und wie lange er auf dieser Station warten müsse. Der Postmeister, die Postmeisterin, der Kammerdiener boten ihre Dienste an, doch Peter sah sie schweigend durch seine Brille an, ohne seine Lage zu verändern, und begriff nicht, was sie wollten, und wie sie weiter zu leben vermochten, ohne jene Fragen gelöst zu haben, die ihn so lebhaft beschäftigten. Seit jenem Tage, wo er nach dem Duell von den Sperlingsbergen zurückkam und eine peinliche, schlaflose Nacht verbrachte, war es fast, als ob in seinem Kopf jene wichtige Schraube sich verdreht hätte, welche seinem ganzen Leben Halt gab. Die Schraube drehte sich noch immer weiter, ohne in etwas einzugreifen, und es war unmöglich, sie anzuhalten. Der Postmeister trat ein und bat demütig Seine Erlaucht, noch zwei Stündchen zu warten, dann werde er Kurierpferde erhalten. Das war augenscheinlich gelogen; der Postmeister wollte nur den Durchreisenden möglichst viel Geld abnehmen.
»Ist das böse oder gut?« fragte sich Peter. »Für mich ist es gut, für einen anderen Reisenden schlimm, aber für den Postmeister ist es notwendig, weil er nichts zu essen hat. Er sagte, ein Offizier habe ihn geprügelt. Der Offizier tat das, weil er schnell weiterreisen mußte; ich aber habe auf Dolochow geschossen, weil ich mich für beleidigt hielt. Was ist böse? Was ist gut? Wozu lebt man? Wo bin ich? Was ist Leben und Tod? Welche Kraft regiert alles?« fragte er sich und fand keine Antwort auf diese Fragen, außer der unlogischen Antwort: »Wenn du stirbst, ist alles zu Ende! Stirbst du, so wirst du alles erfahren, oder du wirst nichts mehr fragen.« Aber der Tod erschien ihm schrecklich.
»Ich möchte Eure Durchlaucht ergebenst bitten«, sagte der Postmeister eintretend, »ein wenig Raum zu geben für diesen Herrn.« Ein anderer Reisender war eingetroffen, welcher auch wegen Mangel an Pferden warten mußte. Es war ein kleiner, knöcherner Greis mit gelbem, faltigem Gesicht und grauen, herabhängenden Augenbrauen über den glänzenden Augen. Peter nahm seine Füße vom Tisch herab, stand auf und legte sich auf das Ruhebett, indem er zuweilen den Eintretenden betrachtete, welcher mit ermüdeter, mürrischer Miene, ohne Peter anzublicken, mit Hilfe seines Dieners schwerfällig den Mantel abnahm. Der Fremde setzte sich auf den Diwan, lehnte seinen großen, breiten Kopf an die Rücklehne und blickte Besuchow an, dem der geistreiche und durchdringende Ausdruck des Fremden auffiel. An seinem Finger bemerkte Peter einen großen eisernen Ring mit einem Adamskopf. Der alte Diener des Fremden brachte ein Reisenecessaire, nahm Teezeug heraus und brachte den dampfenden Samowar. Als alles bereit war, öffnete der Alte die Augen, rückte den Stuhl an den Tisch, goß sich ein Glas Tee ein und ein zweites für den alten Diener, das er ihm reichte. Dann fragte der Diener, ob der Herr etwas nötig habe.
»Nein«, erwiderte dieser. »Gib mir nur das Buch!«
Der Diener reichte ihm ein Buch, in das der Fremde sich vertiefte. Nach einiger Zeit legte er das Buch weg, schloß wieder die Augen und lehnte sich an die Rücklehne zurück in seine frühere Lage.
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»Ich habe das Vergnügen, mit dem Grafen Besuchow zu sprechen, wenn ich nicht irre«, begann der Fremde. Peter blickte ihn fragend an. »Ich habe von Ihnen gehört«, fuhr der Fremde fort, »und von dem Unglück, das Sie betroffen hat.«
Peter errötete, nahm hastig die Füße vom Bett herab und lächelte gezwungen.
»Ich habe das nicht aus Neugierde erwähnt, mein Herr, sondern aus wichtigeren Gründen. Sie sind unglücklich, mein Herr! Sie sind jung und ich alt, und deshalb wünsche ich, nach meinen Kräften Ihnen zu helfen.«
»Ach, ich bin Ihnen sehr dankbar! Wohin reisen Sie?«
Das Gesicht des Fremden war unfreundlich, sogar kalt und streng, aber seine Redeweise und seine Miene hatten etwas Einnehmendes für Peter. »Sie sind wohl Freimaurer?« fuhr Peter fort, als er den Ring mit dem Adamskopf an der Hand des Fremden bemerkte.
»Ja, ich gehöre zu der Brüderschaft der Freimaurer«, erwiderte der Fremde, »und im Namen derselben wie in meinem eigenen Namen biete ich Ihnen die brüderliche Hand.«
»Ich fürchte, daß meine Vorstellung vom ganzen Weltgebäude der Ihrigen so sehr widerspricht, daß wir uns nicht vereinigen können.«
»Ich habe nie behauptet, daß ich die Wahrheit kenne«, erwiderte der Freimaurer. »Niemand kann allein zur Wahrheit gelangen, nur Stein auf Stein wird durch die Teilnahme aller von Millionen Generationen seit dem Vorvater Adam bis auf unsere Zeit jener Tempel errichtet, welcher zur Wohnung des großen Gottes würdig erscheint.«
»Ich muß Ihnen sagen, ich glaube nicht… an Gott«, wandte Peter ein. Der Fremde sah Peter durchdringend an und lächelte. »Sie kennen ihn nicht, mein Herr«, erwiderte er, »Sie können ihn nicht kennen, und darum sind Sie unglücklich.«
»Ja, ich bin unglücklich«, bestätigte Peter, »aber was soll ich tun?«
»Sie kennen ihn nicht, er ist aber hier, in mir, in meinen Worten, in dir und selbst in deinen gotteslästerlichen Reden«, sagte der Greis mit ernster, zitternder Stimme. »Wer hätte ihn erkennen können, wenn er nicht wäre? Woher entstand in Ihnen die Vermutung, daß es ein solches unbegreifliches Wesen gebe? Warum vermutest du und die ganze Welt das Dasein eines so unerreichbaren, allmächtigen, ewigen und unendlichen Wesens?«
Er schwieg lange Zeit. Peter wollte dieses Schweigen nicht unterbrechen. Mit Schrecken fühlte er, wie sich in seinem Innern Zweifel regten. Er erkannte die Unklarheit und Schwachheit der Gründe des Freimaurers und fürchtete, ihnen nicht glauben zu können. »Ich begreife nicht«, sagte er, »warum der menschliche Geist nicht zu solchem Wissen gelangen könnte, von dem Sie sprechen?«
Der Freimaurer lächelte. »Die große Weisheit und Wahrheit ist wie der reinste Quell. Können wir in einem unreinen Gefäß dieses reine Quellwasser schöpfen, um seine Reinheit zu beurteilen? Man kann den innerlichen Menschen reinigen und erneuern, und darum muß man erst glauben und sich vervollkommnen, um zum Wissen zu gelangen, und zu diesem Zweck lebt in unserer Seele ein göttliches Licht, das wir Gewissen nennen.«
»Ja, ja«, bestätigte Peter.
»Betrachte mit geistigem Auge deinen