Marie fiel nicht in Ohnmacht. Sie vergaß ihre Angst vor dem Vater, näherte sich ihm, zog ihn an sich und küßte seinen hageren Hals.
»Väterchen«, sagte sie, »wenden Sie sich nicht ab von mir, wir wollen zusammen weinen.«
»Die Strolche!« schrie der Alte. »Richten die Armee zugrunde und die Menschen! Wofür! Geh, geh, sage es Lisa! Ich werde auch kommen.«
Die kleine Fürstin saß an einer Arbeit mit jenem Ausdruck ruhigen Glücks in ihren Zügen, welcher zukünftigen Müttern eigen ist.
»Was ist dir, Marie?« fragte sie, als sie Marie mit Tränen in den Augen eintreten sah.
»Nichts, ich bin nur so schwermütig wegen Andree.«
Mehrmals machte Marie einen Anfang, die kleine Fürstin vorzubereiten, wurde aber stets von Tränen unterbrochen. Die Tränen, deren Grund die junge Frau nicht kannte, beunruhigten sie, so wenig Beobachtungsgabe sie auch besaß. Sie blickte sich schweigend um, als ob sie etwas suchte. Vor Tisch trat der alte Fürst in ihr Zimmer, vor dem sie sich immer fürchtete, mit einem besonders aufgeregten, zornigen Gesicht; doch ohne ein Wort zu sprechen, verließ er das Zimmer wieder. Sie sah Marie an und brach plötzlich in Tränen aus.
»Habt ihr Nachricht von Andree?« fragte sie.
»Nein. Du weißt, daß noch keine Nachricht da sein kann. Aber Papa ist unruhig.«
»Nichts weiter?«
»Nein«, sagte Marie. Sie hielt es für besser, ihr nichts zu sagen, und überredete den Alten, die schreckliche Nachricht noch geheimzuhalten. Marie und der alte Fürst trugen und verbargen ihren Kummer, jedes nach eigener Weise. Der Alte wollte nicht mehr hoffen und entschied, Fürst Andree sei tot, und obgleich er einen Verwalter nach Österreich schickte, um nach Spuren seines Sohnes zu suchen, bestellte er doch zugleich in Moskau ein Denkmal, welches er in seinem Garten aufstellen wollte. Er sagte allen, sein Sohn sei gefallen, und bemühte sich, seine bisherige Lebensweise einzuhalten. Aber seine Kräfte verließen ihn; er ging weniger, aß weniger, schlief weniger und wurde mit jedem Tag schwächer.
Fürstin Marie hoffte noch, sie betete für ihren Bruder wie für einen Lebenden, und erwartete jeden Augenblick die Nachricht von seiner Rückkehr.
66
In jedem Lächeln, in jeder Bemerkung, sogar in jeder Bewegung lag ein Anflug von Trauer, die sich auf dieses Haus herabgesenkt hatte. Auch das Lächeln der kleinen Fürstin, welche sich der allgemeinen Stimmung anpaßte, obgleich sie deren Veranlassung nicht kannte, erinnerte jetzt an die allgemeine Trauer.
»Meine Liebe, ich fürchte, von dem heutigen Frühstück wird mir übel werden«, sagte sie zu Marie.
»Was ist dir? Du bist bleich geworden, meine Liebe, sehr bleich!« sagte Marie erschreckt.
»Soll man nicht zu Maria Bogdanowna senden?« sagte eine der Kammerzofen. Maria Bogdanowna war die Wartefrau aus der Kreisstadt, welche schon seit zwei Wochen in Lysy Gory wohnte.
»Ja, wirklich«, bestätigte Marie, »ich werde zu ihr gehen.«
»Ach, nein, nein!« rief die Fürstin, und auf ihrem Gesicht erschien kindliche Angst vor unvermeidlichem physischen Leiden. »Nein, ich habe mir nur den Magen verdorben. Wirklich, Mascha!«
Maria eilte in das Zimmer der Wartefrau. Diese kam ihr schon mit verständnisvoller, ruhiger Miene entgegen, indem sie die kleinen, vollen, weißen Hände rieb.
»Maria Bogdanowna, es scheint, es fängt an!« sagte Marie erschrocken.
»Nun, Gott sei Dank, Fürstin!« erwiderte sie, ohne sich zu übereilen.
»Aber warum ist der Arzt aus Moskau noch nicht gekommen?«
»Schadet nichts. Beruhigen Sie sich!« sagte Maria Bogdanowna. »Es wird auch ohne den Doktor alles gut werden.«
Marie saß allein in ihrem Zimmer und horchte auf jedes Geräusch. Zuweilen, wenn jemand vorüberging, öffnete sie die Tür. Bald hörte sie, wie etwas Schweres vorübergetragen wurde und blickte hinaus. Zwei Diener trugen einen ledernen Diwan, der im Kabinett des Fürsten Andree gestanden hatte, ins Schlafzimmer. Auf ihren Mienen lag feierliche Ruhe. Sie wagte nicht zu fragen, verschloß die Tür und betete. Nach dem allgemeinen Glauben, je weniger Leute von den Leiden einer Gebärenden wissen, um so leichter werden diese Leiden sein, bemühten sich alle, unbefangen auszusehen.
Im großen Mädchenzimmer herrschte Stille; im Dienerzimmer saßen alle schweigend und erwartend da. Der alte Fürst ging in seinem Kabinett auf und ab und sandte Tichon zu Maria Bogdanowna.
»Sage nur, der Fürst hat befohlen, zu fragen: – was? Und dann sage mir, was sie geantwortet hat.«
»Melde dem Fürsten, die Geburt habe begonnen«, sagte Maria Bogdanowna. Tichon ging und meldete es dem Fürsten.
»Gut«, sagte der Fürst und schloß die Tür hinter sich. Tichon hörte nicht das geringste Geräusch mehr im Kabinett. Er wartete einige Zeit, dann trat er ein, als ob er Kerzen anstecken wollte. Der Fürst lag ruhig auf dem Diwan. Tichon sah ihn an, wiegte den Kopf, trat schweigend näher und küßte den Fürsten auf die Schulter. Dann ging er, ohne die Kerzen angezündet zu haben und ohne zu sagen, warum er gekommen war. Das erhabenste Geheimnis der Welt nahm seinen Verlauf. Der Abend verging, die Nacht brach an, und das Gefühl der gespannten Erwartung vor dem unerreichbar Erhabenen wuchs beständig. Niemand schlief.
Es war eine jener stürmischen Märznächte, wo der Winter mit verzweifelter Wut um seine entschwindende Herrschaft zu kämpfen scheint. Auf die Landstraße waren Reiter mit Laternen ausgesandt worden, um den Doktor aus Moskau zu erwarten.
»Gott ist gnädig«, sagte die alte Amme Maries, welche mit einem Strickstrumpf bei der Tür saß, »es wird kein Doktor nötig sein.« Plötzlich riß ein Windstoß einen Fensterflügel auf, die Gardinen blähten sich auf und ein Strom von Kälte und Schnee stürmte ins Zimmer und löschte das Licht aus. Fürstin Marie fuhr auf, die Amme eilte ans Fenster, um es zu schließen.
»Mütterchen, da kommt jemand die Allee herauf«, sagte sie, »mit Laternen. Das muß der Doktor sein.«
»Ach, Gott sei Dank!« sagte Marie. »Ich muß ihm entgegengehen; er versteht nicht Russisch.« Marie warf einen Schal um und eilte hinaus. Im Vorzimmer sah sie durch das Fenster, daß ein Wagen vor der Hauptpforte stand. Sie ging auf die Treppe hinaus, auf dem Geländer standen Talgkerzen, welche im Wind flackernd zerschmolzen. Philipp, der Diener, stand mit ängstlichem Gesicht unten auf dem ersten Absatz der Treppe. Noch weiter unten hörte sie Schritte großer Pelzstiefel auf der Treppe und eine ihr bekannte Stimme sprach einige Worte.
»Gott sei Dank!« sagte die Stimme. »Und Batuschka?«
»Haben sich schlafen gelegt«, erwiderte der Haushofmeister Demjan.
Dann fragte die Stimme noch einiges, was Demjan beantwortete. Die Schritte der Pelzstiefel näherten sich schneller der noch unsichtbaren Wendung der Treppe.
»Ist das Andree?« dachte Marie. »Nein, das kann nicht sein, es wäre zu außerordentlich!« dachte sie.
In demselben Augenblick erschien auf dem Treppenabsatz, wo der Diener mit der Kerze stand, das Gesicht und die Gestalt des Fürsten Andree im Pelz, ganz mit Schnee bedeckt. Ja, das war er! Aber bleich und hager, mit veränderter, seltsam milder, aber sorgenvoller Miene. Er kam die Treppe herauf und umarmte die Schwester.
»Habt ihr meinen Brief nicht erhalten?« fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, die er auch nicht erhalten hätte, weil die Fürstin nicht sprechen konnte, wandte er sich nach dem Doktor um, der ihm folgte, und ging mit raschen Schritten weiter die Treppe hinauf und wieder umarmte er die Schwester.
»Mascha! Meine Liebe!« rief er, warf den Pelz ab und ging nach dem Zimmer