Die junge Frau lag auf dem Diwan mit einem weißen Häubchen auf dem Kopfe. Die Schmerzen hatten sie eben erst verlassen, die schwarzen Haare umgaben ihre glühenden, mit Schweiß bedeckten Wangen, der rote, entzückende Mund war geschlossen und sie lächelte freudig. Fürst Andree trat ins Zimmer und blieb vor dem Diwan stehen, auf dem sie lag. Ihre glänzenden Augen blickten mit kindlicher Angst und Erregung ihn an. Sie sah ihn, begriff aber nicht die Bedeutung seines Kommens.
Fürst Andree küßte sie auf die Stirn.
»Mein Seelchen!« sagte er, ein Wort, das er nie gesagt hatte, »Gott ist gnädig!…« Sie blickte ihn fragend und vorwurfsvoll an.
»Ich habe Hilfe von dir erwartet und nichts kam«, sagte ihr Blick. Sie wunderte sich nicht, daß er gekommen war, und begriff es auch nicht.
Die Schmerzen begannen wieder, und Maria Bogdanowna riet dem Fürsten, das Zimmer zu verlassen. Der Doktor trat ein. Fürst Andree ging mit Marie in ihr Zimmer. Sie sprachen flüsternd und immer wieder verstummte das Gespräch. Sie warteten und horchten.
»Gehe hinein, Andree«, sagte Marie.
Fürst Andree ging wieder zu seiner Frau und setzte sich wartend im Nebenzimmer nieder. Eine Frau kam aus ihrem Zimmer mit erschrecktem Gesicht und wurde verlegen, als sie ihn sah. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß einige Zeit regungslos, dann vernahm er klägliches, hilfloses Stöhnen, stand auf, ging zur Tür und wollte sie öffnen, aber jemand hielt sie fest. »Man kann jetzt nicht eintreten«, hörte er sagen. Er ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich ertönte ein schrecklicher Aufschrei im Nebenzimmer. Fürst Andree stürzte an die Tür. Der Schrei war verstummt. Man hörte das Weinen eines Kindes.
»Warum hat man ein Kind hierhergebracht?« dachte Fürst Andree im Augenblick. »Was für ein Kind? Warum? Oder ist das das Neugeborene?« Plötzlich begriff er die freudige Bedeutung dieses Weinens und brach selbst in Tränen aus. Die Tür öffnete sich, der Arzt kam in Hemdärmeln bleich und mit zitternder Kinnlade aus dem Zimmer. Fürst Andree wandte sich nach ihm um, aber der Arzt blickte ihn niedergeschlagen an und ging vorüber, ohne ein Wort zu sagen. Eine Frau stürzte heraus, und als sie Fürst Andree erblickte, blieb sie verwirrt bei der Tür stehen. Er trat in das Zimmer seiner Frau. Sie lag tot in derselben Lage, in der er sie vor fünf Minuten gesehen hatte, und derselbe Ausdruck wie zuvor lag auf diesem entzückenden, kindlichen Gesichtchen.
»Ich liebe euch alle und habe niemand Böses zugefügt, warum habt ihr mir das getan?« sagte das schöne, traurige Gesicht. In einer Ecke des Zimmers wimmerte etwas Kleines, Rotes in den weißen, zitternden Händen von Maria Bogdanowna.
Zwei Stunden später trat Fürst Andree mit leisen Schritten in das Kabinett seines Vaters. Der Alte wußte schon alles. Er stand bei der Tür, und sowie diese sich öffnete, umfaßte er mit zitternden Händen den Hals seines Sohnes und weinte wie ein Kind.
Nach drei Tagen ertönte der Sterbegesang für die junge Fürstin. Fürst Andree trat an den Sarg, um von ihr Abschied zu nehmen. Auch im Sarg schien ihre Miene, wenn auch mit geschlossenen Augen, zu sagen: »Ach, was habt ihr mir getan?« und Fürst Andree fühlte, wie sein Herz zerriß. Er fühlte sich belastet mit einer Schuld, die er nicht wieder gutmachen und nicht vergessen konnte. Er konnte nicht weinen. Auch der alte Fürst trat ein und küßte ihr wachsbleiches Händchen, das ruhig auf dem anderen lag. Auch ihm sagte ihre Miene: »Ach, warum habt ihr mir das getan?« Und der Alte wandte sich betrübt ab.
Nach fünf Tagen wurde der junge Fürst Nikolai Andrejewitsch getauft. Der Großvater und Taufpate fürchtete, ihn fallen zu lassen, und übergab ihn seiner Taufmutter, der Fürstin Marie. Fürst Andree saß voll Angst, daß das Kind nicht ertränkt werde, im anderen Zimmer und erwartete die Beendigung der Zeremonie. Freudig blickte er das Kind an, als die Wärterin es ihm brachte.
68
Rostows Teilnahme am Duell Dolochows mit Besuchow wurde durch die Bemühungen des alten Grafen vertuscht. Rostow wurde nicht degradiert, wie er erwartet hatte, sondern zum Adjutanten des Generalgouverneurs von Moskau ernannt. Deshalb konnte er nicht mit der ganzen Familie fortreisen und blieb den Sommer in seiner neuen Stellung in Moskau.
Dolochow genas, und Rostow befreundete sich sehr mit ihm. Dolochow lag krank bei seiner Mutter, die ihn leidenschaftlich und zärtlich liebte und ihre Liebe auch auf Rostow übertrug, mit dem sie oft über ihren Sohn sprach. Oft war Rostow über die Bemerkungen Dolochows im Gespräch erstaunt, die er nicht von ihm erwartet hatte.
Im Herbst kam Graf Rostow mit seiner Familie nach Moskau zurück. Mit Anfang des Winters kehrte auch Denissow nach dort zurück und wohnte bei Rostows. Der Anfang des Winters 1806, den Nikolai Rostow in Moskau zubrachte, war die glücklichste und heiterste Zeit für ihn und die ganze Familie. Nikolai führte viele junge Leute in sein Elternhaus ein. Wera war ein zwanzigjähriges schönes Mädchen, Sonja ein sechzehnjähriges mit allen Reizen einer sich entfaltenden Knospe, und Natalie ein Backfisch mit kindlichem Lachen.
Eine besondere Atmosphäre von Verliebtheit herrschte hier, wie in jedem Hause, wo sehr hübsche und junge Mädchen sind. Unter den jungen Leuten, die Rostow einführte, war einer der ersten Dolochow, der allen im Hause gefiel, mit Ausnahme von Natalie. Beinahe hätte sie sich seinetwegen mit ihrem Bruder gezankt. Sie behauptete, er sei ein böser Mensch, im Duell habe Peter recht gehabt, und Dolochow sei unangenehm und bösartig.
»Ich will nichts von ihm hören«, rief Natalie, »er ist böse und gefühllos. Da ist mir dein Denissow lieber! Ich weiß nicht, wie ich es dir ausdrücken soll.«
»Man muß verstehen, was dieser Dolochow für ein Herz hat, man muß ihn mit seiner Mutter sehen.«
»Davon weiß ich nichts, aber er mißfällt mir. Und weißt du, daß er sich in Sonja verliebt hat?«
»Unsinn!«
»Ich bin überzeugt, du wirst es schon sehen.«
Natalie behielt recht. Obgleich Dolochow Damengesellschaft sonst selten besuchte, war er doch jetzt oft im Hause, und die Frage, warum er kam, war bald entschieden, er kam wegen Sonja. Sonja wußte das, obgleich niemand gewagt hätte, es auszusprechen, und errötete beim Erscheinen Dolochows.
Dolochow speiste oft bei Rostows, versäumte keine Gelegenheit, sie anderswo zu treffen und besuchte auch die Tanzstundenbälle, an denen Rostows sich immer beteiligten. Er widmete Sonja große Aufmerksamkeit und sah sie mit solchen Augen an, daß nicht nur sie, sondern auch die alte Gräfin und Natascha über seinen Blick erröteten.
Rostow bemerkte etwas Neues zwischen Dolochow und Sonja, gab sich aber keine Mühe, zu ergründen, was das für neue Beziehungen waren. »Dort sind sie alle in jemand verliebt«, dachte er. Aber er fühlte sich nicht mehr so befriedigt wie früher in Gegenwart von Sonja und Dolochow und blieb seltener zu Hause.
Im Herbst 1806 sprach man wieder viel von einem Krieg mit Napoleon, sogar mit noch größerem Eifer als im vorigen Jahre. Es wurde eine Aushebung nicht nur von zehn Rekruten, sondern auch von neun Landwehrleuten auf tausend Seelen befohlen. Überall hörte man Verwünschungen über Bonaparte, und in Moskau sprach man von nichts anderem mehr als dem bevorstehenden Krieg. Nikolai wollte um keinen Preis in Moskau bleiben und erwartete nur das Ende von Denissows Urlaub, um mit ihm zum Regiment abzureisen. Die bevorstehende Abreise hinderte ihn aber nicht daran, sich zu amüsieren, und er brachte die Zeit meistens außerhalb des Hauses, bei Diners, Abendgesellschaften und Bällen zu.
69
Am dritten Weihnachtsfeiertag war Nikolai zu Hause, was in letzter Zeit selten vorkam. Es war ein Abschiedsmahl,