Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leo Tolstoi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027211456
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wohin ihm befohlen war. Das war jener glänzende Angriff der Chevaliergarde, den selbst die Franzosen bewunderten. Später hörte Rostow mit Entsetzen, daß von dieser ganzen Masse mächtiger, schöner Leute, von all diesen glänzenden, reichen jungen Offizieren auf teuren Vollblutpferden, die an ihm vorübergaloppiert waren, nach dem Angriff nur noch achtzehn Mann übriggeblieben waren. Als er an einem Garderegiment vorüberritt, hörte er plötzlich seinen Namen rufen und blickte sich um. Er erblickte Boris.

      »Siehst du, wir sind in die erste Linie gekommen, unser Regiment ist zum Angriff vorgegangen«, sagte Boris mit glücklichem Lächeln. »Wirklich?« sagte Rostow. »Nun wie war’s?«

      »Wir haben sie natürlich zurückgeschlagen«, sagte Boris, der sehr gesprächig wurde, »das kannst du dir denken!« Und er erzählte, wie die Garde vor sich Truppen sah und sie für Österreicher hielt, dann aber an den Kanonen-und Flintenschüssen von diesen Truppen erkannte, daß sie in der ersten Linie stand und sogleich ins Gefecht gekommen war. Noch ehe Rostow alles zu Ende gehört hatte, trieb er sein Pferd wieder an.

      »Wohin gehst du?« fragte Boris.

      »Zu Seiner Majestät mit einem Auftrag.«

      Um nicht wieder in die erste Linie zu geraten, ritt Rostow nun in die Linie der Reserven und umging in weitem Bogen die Stelle, von wo das stärkste Feuer gehört wurde. Plötzlich vernahm er heftiges Gewehrfeuer vor sich und hinter unseren Truppen an einer Stelle, wo er keinesfalls den Feind vermuten konnte.

      »Was kann das sein?« dachte Rostow. »Der Feind im Rücken der Unsrigen? Unmöglich!« Und eine Angst um den Ausgang der Schlacht überfiel ihn. »Aber ich muß sofort den Obergeneral suchen.«

      Das ängstliche Vorgefühl, das Rostow befallen hatte, wurde mehr und mehr bestätigt, je weiter er kam.

      »Was gibt’s? Wer schießt?« fragte Rostow, als russische und österreichische Soldaten in wirren Haufen quer über seinen Weg liefen.

      »Der Teufel mag’s wissen! Alles ist verloren!« wurde ihm auf russisch, auf deutsch und auf tschechisch geantwortet. »Der Teufel soll die Deutschen holen!«

      »Zum Teufel, diese Russen!« knurrte irgendwo ein Deutscher.

      Das Feuer hörte auf, und wie Rostow später erfuhr, hatten österreichische und russische Soldaten aufeinander geschossen. Obgleich er französische Kanonen und Truppen auf den Höhen bei Pratzen erblickte, an derselben Stelle, wo er den Oberkommandierenden suchen sollte, konnte er doch nicht daran glauben.

      57

       Inhaltsverzeichnis

      Beim Dorfe Pratzen fand Rostow keinen einzigen Befehlshaber mehr, sondern nur wirre Haufen von Truppen. Er trieb sein ermüdetes Pferd an, um schneller vorüberzukommen, aber je weiter er kam, desto größer wurde die Unordnung. Auf der Landstraße drängten sich Wagen und Equipagen aller Art, russische und österreichische Soldaten, Verwundete und Nichtverwundete, alles das lärmte und drängte sich unter dem Geheul der Kanonenkugeln von den französischen Batterien, die auf den Höhen von Pratzen aufgestellt worden waren.

      »Wo ist der Kaiser? Wo ist Kutusow?« fragte Rostow alle, die er anhalten konnte, aber von keinem erhielt er Antwort. Endlich ergriff er einen Soldaten am Kragen und zwang ihn, zu antworten.

      »Ach, Brüderchen, die sind alle schon lange ausgerissen«, sagte der Soldat lachend und riß sich los. Dann hielt Rostow das Pferd eines Offiziersburschen oder Reitknechts einer vornehmen Persönlichkeit an, um ihn zu befragen. Von dem Burschen erfuhr Rostow, der Kaiser sei vor einer Stunde im schnellen Trab auf eben dieser Straße fortgefahren, und der Kaiser sei gefährlich verwundet.

      »Das kann nicht sein«, erwiderte Rostow, »das war wahrscheinlich jemand anders.«

      »Ich habe ihn selbst gesehen«, erwiderte der Bursche. »Ich werde doch den Kaiser kennen! Wie oft habe ich ihn in Petersburg gesehen! Er saß ganz bleich im Wagen, ich werde doch den kaiserlichen Kutscher kennen!«

      Rostow wollte weiterreiten, als sich ein vorübergehender, verwundeter Offizier an ihn wandte.

      »Wen suchen Sie?« fragte der Offizier. »Den Oberkommandierenden? Eine Kanonenkugel hat ihn zerrissen.«

      »Er ist nur verwundet«, berichtigte ein anderer Offizier. »Wer? Kutusow?« fragte Rostow.

      »Nicht Kutusow, wie heißt er doch? Nun, gleichviel, es sind nicht viele am Leben geblieben. Gehen Sie einmal dorthin, nach jenem Dorf, dort hat sich das Oberkommando versammelt«, sagte dieser Offizier, auf das Dorf Gostjeradek deutend, und ging vorüber.

      Rostow ritt im Schritt weiter. Er wußte nicht, wohin und zu wem er jetzt gehen sollte. Der Kaiser verwundet, die Schlacht verloren! Er konnte dies jetzt noch nicht glauben. Rostow ritt in der angegebenen Richtung weiter. Wohin sollte er sich wenden? Was sollte er jetzt dem Kaiser oder Kutusow sagen, selbst wenn sie noch am Leben und unverwundet waren?

      »Reiten Sie diesen Weg, Euer Wohlgeboren!« rief ihm ein Soldat zu. »Wenn Sie geradeaus reiten, werden Sie totgeschossen!«

      Rostow dachte nach und ritt in der Richtung weiter, die, wie man ihm sagte, so gefährlich sein sollte.

      Er ritt über das Feld, auf dem am meisten Leute gefallen waren. Die Franzosen hatten Pratzen noch nicht besetzt, aber die Russen hatten es schon lange verlassen. Auf dem Feld lagen die Toten wie Garben auf einem guten Ackerfeld. Die Verwundeten krochen zu zweien und dreien zusammen, und er hörte ihr Schreien und Stöhnen, das ihm zuweilen wie Verstellung vorkam. Er setzte sein Pferd in Trab, nicht weil er für sein Leben fürchtete, sondern weil er fühlte, daß sein Mut den Anblick dieser Unglücklichen nicht ertragen konnte.

      Die Franzosen hatten aufgehört, auf dieses mit Toten und Verwundeten besäte Feld zu schießen. Als sie den auf sie zukommenden Adjutanten bemerkten, richteten sie eine Kanone nach ihm und schossen einige Kugeln ab.

      Beim Dorfe Gostjeradek traf er russische Truppen, die in besserer Ordnung vom Schlachtfeld abmarschierten. Nur noch aus der Ferne hörte man Gewehrfeuer. Hier sahen schon alle klar, daß die Schlacht verloren war. Ein Offizier sagte Rostow, er habe in einem Dorfe zur Linken einen der höchsten Generale gesehen, und dorthin ritt Rostow, wenn auch ohne Hoffnung, jemand zu finden, nur um sein Gewissen zu beruhigen. Nachdem er etwa drei Kilometer weitergeritten war, hatte er die letzten russischen Truppen überholt. Bei einem Garten, der von einem Graben umgeben war, erblickte er zwei Reiter, der eine erschien Rostow bekannt, der andere, dessen Pferd Rostow gleichfalls bekannt erschien, ritt an den Graben und spornte das Pferd an, welches leicht über den Graben setzte. Er wandte das Pferd, übersprang nochmals den Graben und näherte sich ehrerbietig dem anderen Reiter, dem er wahrscheinlich vorschlug, seinem Beispiel zu folgen. Der andere antwortete mit einer verneinenden Gebärde, und an dieser erkannte Rostow sofort seinen beweinten verehrten Kaiser. »Aber das kann er nicht sein! Allein in dieser Einöde?« dachte Rostow. In diesem Augenblick wandte Alexander den Kopf, und Rostow sah die in sein Gedächtnis eingegrabenen, geliebten Züge. Rostow war glücklich, ihn zu sehen. Er wußte, daß er sich direkt an ihn wenden konnte und er mußte ihm sogar berichten, was ihm von Dolgorukow aufgetragen worden war. Aber wie ein verliebter Jüngling zittert und verstummt, wenn er die Geliebte erblickt, so wußte auch jetzt Rostow in dem Augenblick, den er so lange herbeigewünscht hatte, nicht, wie er es wagen sollte, sich dem Kaiser zu nähern.

      »Wie, ich sollte es wagen, den Zufall zu benutzen? Ein unbekanntes Gesicht in diesem kummervollen Augenblick könnte ihm peinlich sein. Und was sollte ich ihm auch sagen?« Nicht eine jener zahlreichen Reden, die er sich zuvor zurechtgelegt hatte, kam ihm jetzt ins Gedächtnis. Diese Reden paßten zu ganz anderen Gelegenheiten, meist für Augenblicke des Triumphs und hauptsächlich zu einem Totenbett, wo der Kaiser ihm für seine Heldentaten dankte, und er sterbend seine hingebende Verehrung aussprach.

      »Und was sollte ich auch jetzt den Kaiser um Befehle für den rechten Flügel bitten, wo die Schlacht schon verloren ist? Nein, ich kann mich ihm jetzt nicht nähern, lieber tausendmal sterben, als einen mißfälligen