Aber sie war es doch, in einem neuen, ihm noch unbekannten Kleid. Alle traten von ihm zurück, und er eilte der Mutter entgegen, die ihm weinend um den Hals fiel.
Denissow war unbemerkt ins Zimmer getreten und rieb sich die Augen. »Wassil Denissow, Freund Ihres Sohnes!« sagte er, indem er sich dem Grafen vorstellte, der ihn fragend angeschaut hatte.
»Sehr erfreut! Ich weiß, ich weiß!« sagte der Graf, umarmte und küßte Denissow. »Mein Sohn hat mir geschrieben. Natalie, Wera! Hier ist Denissow!«
Dieselben glücklichen und entzückten Gesichter wandten sich jetzt auch Denissow zu. »Teurer Freund!« rief Natalie, welche in Entzücken schwamm. Sie umarmte und küßte ihn. Alle blickten sie mißbilligend an, auch Denissow errötete, ergriff lachend die Hand Natalies und küßte sie. Nachdem Denissow in ein für ihn bereitstehendes Zimmer geführt worden war, versammelten sich alle im Salon um Nikolai. Die alte Gräfin ließ seine Hand nicht los und küßte sie jeden Augenblick, die anderen drängten sich um ihn und beobachteten jede seiner Bewegungen, Äußerungen und Blicke. Rostow war sehr erfreut über die Liebe, mit der ihn alle empfingen, aber der erste Augenblick war so entzückend gewesen, daß sein jetziges Glück ihm gering erschien und er immer noch etwas Höheres erwartete.
Am anderen Morgen schliefen die Reisenden bis zehn Uhr. Im Vorzimmer lagen Säbeltaschen, offene Koffer, schmutzige Stiefel umher. Die Diener brachten heißes Wasser zum Rasieren und gereinigte Kleider und Stiefel. Rostow rieb die verschlafenen Augen. »Ist’s schon spät?« fragte er.
»Zehn Uhr!« erwiderte Natalies Stimme, und im Nebenzimmer hörte man das Rauschen gestärkter Kleider, flüsternde und lachende Mädchenstimmen und durch einen Spalt der Tür wurden blaue Bänder, schwarze Haare und fröhliche Gesichter sichtbar. Es waren Natalie und Sonja mit Petja.
»Nikolai, steh auf!« rief Natalie wieder bei der Tür.
Peterchen hatte inzwischen im ersten Zimmer die Säbel gesehen und geriet in Entzücken beim Anblick des kriegerischen älteren Bruders. Er vergaß die Gegenwart der Mädchen und öffnete die Tür.
»Ist das dein Säbel?« rief er. Die Mädchen entflohen, Denissow verbarg mit erschreckten Blicken seine rauhen Beine unter der Decke und blickte hilfesuchend nach seinem Gefährten. Nachdem Petja eingetreten war, schloß er wieder die Tür und draußen hörte man lachen.
»Nikolai, komm im Schlafrock heraus!« sagte Natalies Stimme.
Rostow legte hastig Schlafrock und Pantoffeln an und ging hinaus. Natalie hatte einen Stiefel mit Sporen angezogen und war mit dem zweiten beschäftigt. Die Mädchen trugen neue blaue, ganz gleiche Kleider. Sie waren heiter und fröhlich. Sonja entfloh, aber Natalie nahm ihren Bruder unter dem Arm, führte ihn in den Salon und begann mit ihm ein Gespräch. Sie vermochten kaum ihre gegenseitigen Fragen nach den tausend Kleinigkeiten zu beantworten, welche nur sie allein interessieren konnten.
»Ach, wie schön, wie herrlich!« rief sie. Rostow fühlte, wie unter dem Einfluß der warmen Strahlen der Liebe zum erstenmal nach anderthalb Jahren in seiner Seele und auf seinem Gesicht wieder das fröhliche, kindliche Lächeln erschien.
»Bist du jetzt ein ganzer Mann? Ich freue mich ganz schrecklich, daß du mein Bruder bist!« Sie zog ihn am Schnurrbart. »Ich möchte gern wissen, wie ihr Männer seid? Ebenso wie wir? Nein!«
»Warum ist Sonja davongelaufen?« fragte Nikolai.
»Nun, das ist eine ganze Geschichte! Wie wirst du mit ihr sprechen, du oder Sie?«
»Wie es kommt«, sagte Rostow.
»Sage ›Sie‹, ich werde dir später sagen, warum.«
»Was gibt es denn?«
»Nun, ich kann es dir auch jetzt sagen. Du weißt, Sonja ist meine Freundin, und ich könnte meine Hand für sie ins Feuer legen. Sieh her!« Sie streifte den Ärmel in die Höhe und zeigte ihm über dem Ellbogen einen roten Fleck.
»Das ist ein Brandmal, um ihr meine Liebe zu beweisen. Ich habe ein Lineal im Feuer glühend gemacht und darauf gelegt.«
»Nun und was weiter?« fragte er.
»Nun, wir sind solche Freundinnen, und sie liebt mich und dich so sehr!«
Natalie errötete plötzlich. »Nun, du erinnerst dich, vor deiner Abreise sagte sie, du sollst alles vergessen, und später sagte sie zu mir: ›Ich werde ihn immer lieben, aber er soll frei sein!‹ Ist das nicht edel?«
Rostow wurde nachdenklich.
»Ich nehme keineswegs mein Wort zurück«, sagte er, »und dann ist auch Sonja so entzückend! – Welcher Dummkopf könnte sein Glück zurückweisen?«
»Nein, nein«, rief Natalie, »ich habe mit ihr darüber gesprochen, wir wußten, daß du so sprechen wirst! Aber das darf nicht sein, denn verstehst du, wenn du so sprichst und dich durch dein Wort für gebunden hältst, so kommt es so heraus, als ob sie absichtlich das gesagt hätte, und als ob du nur gezwungen dich zur Heirat mit ihr entschließen würdest.«
Rostow sah ein, daß alles von den Mädchen wohl überdacht war. Noch gestern hatte er Sonjas Schönheit bewundert, und jetzt, wo er sie genauer sah, erschien sie ihm noch schöner. Sie war ein entzückendes sechzehnjähriges Mädchen, das ihn augenscheinlich leidenschaftlich liebte, daran zweifelte er keinen Augenblick. Warum sollte er sie also nicht lieben und sogar heiraten? dachte Rostow. Aber jetzt gab es noch so viele andere Freuden.
»Gut, gut«, sagte er, »wir sprechen später noch davon! Aber bist du Boris nicht untreu geworden?« fragte er.
»Unsinn!« rief Natalie lachend. »Ich denke weder an ihn noch an sonst jemand!«
»Oho, was treibst du eigentlich?«
»Ich?« fragte Natalie, und ein glückliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Kennst du Duport, den berühmten Duport, den Tänzer? Sieh her!« Sie ergriff mit runden Armen ihren Rock, tanzte einige Schritte, schlug die Füßchen zusammen, stellte sich auf die Fußspitzen und machte einige Schritte. »Siehst du, ich werde niemals heiraten, ich werde Tänzerin werden! Sage nur niemand ein Wort davon!«
Rostow brach in lautes Lachen aus, in das Natalie einstimmte.
»Ist’s nicht hübsch?« fragte sie.
»Sehr gut. Also Boris willst du nicht mehr heiraten?«
»Ich will niemand heiraten, und das werde ich ihm selbst sagen, sobald ich ihn sehe.«
»Oho!« rief Rostow wieder.
»Aber das sind alles Dummheiten«, schwatzte Natalie weiter. »Sage mir, ist Denissow ein guter Mensch?« fragte sie.
»O ja, sehr gut.«
»Nun kleide dich an! Aber ich denke, er ist abscheulich, dein Denissow!«
»Abscheulich?« fragte Nikolai. »Nein, Wasska ist ein prächtiger Junge!«
»Wasska nennst du ihn? Sonderbar!… Er ist also wirklich gut?«
»Ja, sehr gut.«
»Nun beeile dich, komme bald zum Tee, wir trinken alle miteinander.«
Natascha stellte sich auf die Fußspitzen und tänzelte aus dem Zimmer wie eine Tänzerin. Als Rostow im Salon Sonja traf, errötete er und wußte nicht,