Aber in diesem Augenblick wurde alles in Rauch eingehüllt und ganz in der Nähe ertönte Gewehrfeuer. Eine Stimme sagte im naivem Schrecken, zwei Schritte von Fürst Andree entfernt: »Nun, Brüderchen, jetzt ist’s aus!« Und als ob diese Stimme ein Kommando gewesen wäre, begannen alle zu fliehen. Ein wirrer Haufen, der sich immer mehr vergrößerte, floh zurück nach der Stelle, wo fünf Minuten zuvor die Truppen vor den Kaisern vorübergezogen waren. Es schien unmöglich, den Haufen anzuhalten, welcher alles mit sich riß. Neswizki rief außer sich Kutusow zu, wenn er nicht sogleich weiterreite, so werde er sicherlich gefangengenommen. Kutusow blieb stehen, ohne zu antworten, und zog das Taschentuch heraus. Über seine Wange floß Blut herab. Fürst Andree drängte sich bis zu ihm.
»Sie sind verwundet?« fragte er.
»Nicht hier ist die Wunde, sondern dort«, sagte Kutusow, nach den Fliehenden deutend. »Halten Sie sie an!« schrie er, aber die Masse riß ihn mit sich fort. Es war sehr schwer, sich daraus los zu machen. Ein Soldat wandte sich um und schoß in die Luft, ein anderer schlug das Pferd, auf dem Kutusow selbst ritt. Endlich riß sich Kutusow mit einem Teil seiner Suite aus dem Haufen los, und Fürst Andree sah vom Abhang des Berges im Rauch eine noch feuernde russische Batterie und die auf sie zustürzenden Franzosen. Weiter oben stand russische Infanterie, welche sich nicht rührte, um der Batterie zu Hilfe zu kommen. Ein General kam von dieser Infanterie her Kutusow entgegen.
»Halten Sie diese Strolche auf!« sagte Kutusow keuchend zum Regimentskommandeur, aber in diesem Augenblick flogen die Kugeln wie ein Schwarm Vögel pfeifend nach dem Regiment und der Suite Kutusows. Die Franzosen griffen die Batterie an und schossen auch auf Kutusow. Einige Soldaten fielen, dem Fahnenträger entfiel die Fahne, welche in den Gewehren der nebenstehenden Soldaten hängenblieb, die Soldaten begannen ohne Kommando zu feuern.
»Oh, oh!« rief Kutusow und blickte sich entsetzt um. »Bolkonsky«, flüsterte er mit greisenhafter, zitternder Stimme, »was ist das?«
Fürst Andree mit Tränen der Wut und der Beschämung in den Augen war schon vom Pferde gestiegen und stürzte auf die Fahne zu.
»Kinder! Vorwärts!« rief er. »Jetzt kommt es!« dachte er, ergriff kühn die Fahne und hörte mit Entzücken das Pfeifen der Kugeln, welche augenscheinlich auf ihn gezielt waren. Einige Soldaten fielen. »Hurra!« rief Fürst Andree, der die schwere Fahne kaum in den Händen zu halten vermochte, und lief vorwärts mit der unerschütterlichen Zuversicht, daß das ganze Bataillon ihm nachfolgen werde. Wirklich, als er einige Schritte gemacht hatte, rührte sich der eine und der andere, das ganze Bataillon lief mit Hurrageschrei ihm nach und überholte ihn. Ein Unteroffizier ergriff die Fahne, welche wegen ihrer Schwere in den Händen des Fürsten Andree schwankte, wurde aber sogleich erschossen. Andree nahm die Fahne wieder auf und lief dem Bataillon nach. Er sah unsere Artilleristen, von welchen einige kämpften und andere ihm fliehend entgegenliefen, er sah auf die französische Infanterie, welche die Artilleriepferde ergriff und die Kanonen umkehrte. Fürst Andree war mit dem Bataillon nur zwanzig Schritt von den Kanonen entfernt. Über sich hörte er das beständige Pfeifen der Kugeln, und links und rechts fielen fortwährend Soldaten, aber er sah nicht nach ihnen. Er sah deutlich einen großen Artilleristen mit seitwärts aufgesetztem Tschako, welcher an einem Kanonenwischer zog, während ein Franzose denselben am andern Ende hielt. Fürst Andree sah schon die wütenden Gesichter dieser beiden Leute, welche nicht zu begreifen schienen, was sie taten.
»Was machen sie da?« dachte Fürst Andree. »Warum flieht der Artillerist nicht, und warum sticht ihn der Franzose nicht nieder?« Wirklich kam ein anderer Franzose mit einem Gewehr von der Seite, und das Schicksal des rothaarigen Artilleristen, welcher triumphierend den Wischer an sich riß, mußte sich entscheiden. Aber Fürst Andree sah nicht mehr, wie die Sache endigte. Er empfand einen Schlag auf den Kopf wie mit einem starken Knüppel aus voller Kraft. Der Schmerz war besonders unangenehm, weil er ihn verhinderte, zu sehen, was vorging.
»Was ist das? Meine Füße geben nach«, dachte er und fiel auf den Rücken. Er öffnete die Augen, um zu sehen, wie der Kampf des Franzosen mit dem Artilleristen endigte, aber er sah nichts mehr davon. Über ihm war nur das hohe Himmelsgewölbe mit den still dahinschwebenden grauen Wolken. »Wie still, wie ruhig und feierlich, ganz anders, als das Rufen und Schreien im Kampf. Warum habe ich nicht früher diesen hohen Himmel gesehen, und wie bin ich glücklich, daß ich ihn endlich erkannt habe! Ja, alles ist leerer Trug außer diesem unendlichen Himmel, nichts, nichts gibt es außer ihm! Nichts außer Ruhe und Stille! O, Gott sei Dank! …«
56
Auf dem rechten Flügel bei Bagration hatte um neun Uhr das Gefecht noch nicht begonnen. Um keine Verantwortung zu übernehmen, schlug Fürst Bagration Dolgorukow vor, beim Oberkommandierenden anfragen zu lassen. Bagration wußte, daß die Entfernung von einem Flügel zum anderen zehn Kilometer betrug, und wenn der von ihm Abgesandte nicht erschossen wurde, was wahrscheinlich war, und wenn er den Oberkommandierenden auffand, was sehr schwierig war, der Ordonnanzoffizier doch nicht vor dem Abend zurückkehren konnte. Bagration sah sich um, erblickte Rostow und sandte ihn ab.
»Aber wenn ich seiner Majestät früher begegne als dem Oberkommandierenden?« fragte Rostow, mit der Hand am Schirm.
»Dann können Sie Seiner Majestät melden«, sprach rasch Dolgorukow dazwischen.
Nachdem Rostow aus der Kette abgelöst worden war, hatte er noch einige Stunden bis zum Morgen geschlafen und fühlte sich ganz frisch, heiter und entschlossen, in der Stimmung, in der alles leicht und möglich erscheint. Alle seine Wünsche erfüllten sich an diesem Morgen. Eine Hauptschlacht wurde geschlagen, er wurde Ordonnanzoffizier beim tapfersten General, und überdies erhielt er einen Auftrag an Kutusow, den er vielleicht dem Kaiser selbst überbringen konnte. Er ritt vergnügt und glücklich auf einem guten Pferd die Linie entlang, vor sich hörte er deutlich Kanonendonner und Gewehrfeuer, die sich mehr und mehr verstärkten.
In der Nähe der Höhe von Pratzen wurde das Feuer so heftig, daß nicht mehr einzelne Kanonenschüsse, sondern nur ein allgemeines Dröhnen vernehmbar war. Er ritt fast in der vordersten Linie, einige Reiter galoppierten ihm entgegen, das waren unsere Leibulanen, die mit zersprengten Gliedern vom Angriff zurückkamen. Im Vorüberreiten bemerkte Rostow, daß einer von ihnen heftig blutete.
»Das ist nicht meine Sache«, dachte er. Kaum war er einige hundert Schritte weitergekommen, als links von ihm, von der Seite her, auf der ganzen Breite des Feldes eine ungeheure Masse Kavallerie in weißen, glänzenden Uniformen im Trab gerade auf ihn zukam. Rostow trieb sein Pferd an, um diesen Kavalleristen aus dem Wege zu kommen, aber sie beschleunigten ihre Gangart, und einige Pferde galoppierten schon. Immer deutlicher hörte Rostow das Klirren ihrer Waffen und sogar ihre Gesichter konnte er schon erkennen. Das war unsere Chevaliergarde, die zum Angriff gegen die französische Kavallerie vorging.
Die Chevaliergarde galoppierte, hielt aber noch die Pferde zurück. Rostow sah schon ihre Gesichter und hörte, wie ein Offizier »Marsch! Marsch!« kommandierte, der sein Vollblutpferd zu vollem Lauf antrieb. Rostow fürchtete, überritten oder in dem Angriff auf die Franzosen umgerissen zu werden und trieb sein Pferd zum schnellsten Lauf an. Der äußerste Gardist, ein schmächtiger, pockennarbiger Mensch, sah mit zorniger Miene plötzlich Rostow vor sich, mit dem er unvermeidlich zusammenstoßen mußte. Dieser Gardist hätte Rostow jedenfalls überritten. Rostow erschien sich selbst so klein und schwach im Vergleich mit diesen riesigen Leuten und Pferden. Aber er gab mit der Reitgerte dem Pferde des Gardisten einen Schlag über das Gesicht. Es fuhr zusammen, legte die Ohren zurück. Der Reiter stieß ihm die Sporen in die Seite, das Pferd aber wedelte mit dem Schweif, zog den Hals in die Länge und galoppierte noch rascher. Kaum war Rostow vorübergekommen, als er das Hurrageschrei hörte und sah, wie die vordersten Reiter sich mit fremden, wahrscheinlich französischen Kavalleristen mit roten Epauletten vermischten. Weiter konnte er nichts mehr sehen, weil gleich