»Und ich könnte an seiner Stelle sein!« dachte Rostow. Er vermochte kaum seine Tränen zurückzuhalten und ritt verzweifelt weiter, ohne zu wissen, wohin. Er hatte die einzige Gelegenheit verscherzt, dem Kaiser seine Ergebenheit zu beweisen.
»Was habe ich getan?« dachte er. Er wandte sein Pferd und galoppierte zurück an die Stelle, wo er den Kaiser gesehen hatte, fand aber niemand mehr außer Equipagen und Wagenzügen. Von einem der Fuhrleute erfuhr Rostow, der Stab Kutusows befinde sich in der Nähe in einem Dorf, wohin die Wagen fuhren, und Rostow folgte ihnen nach.
Um fünf Uhr abends war die Schlacht auf allen Punkten verloren. Mehr als hundert Kanonen blieben in den Händen der Franzosen, Prschebischewsky legte mit seinem ganzen Heeresteil die Waffen nieder, andere Kolonnen, welche die Hälfte ihrer Leute verloren hatten, zogen sich in wirren Haufen zurück. Um sechs Uhr hörte man nur noch eine heftige Kanonade von französischer Seite, welche zahlreiche Batterien am Abhang der Höhe von Pratzen errichtet hatten und unsere Truppen beschossen. Bei der Nachhut hatten Dochturow und andere einige Bataillone gesammelt, welche die verfolgende französische Kavallerie beschossen und aufhielten. Es begann bereits zu dunkeln. Auf dem schmalen Damm der Augest drängten sich jetzt Wagen, Pferde und von Todesfurcht gejagte Menschen, die über Sterbende hinwegschritten. Alle zehn Sekunden schlug eine Kanonenkugel oder eine Granate in diese dichte Masse. Dolochow, welcher schon Offizier geworden war, bildete mit einem Dutzend Soldaten und seinem Oberst den ganzen Rest seines Regiments. Die ganze Masse auf dem schmalen Damm kam zum Stehen, weil vorn ein Pferd gefallen war. Die Masse staute sich auf, eine Kanonenkugel schlug hinter ihnen ein, eine andere vor ihnen und überschüttete Dolochow mit Blut.
»Nur noch hundert Schritte und ich bin gerettet, wenn ich aber nur zwei Minuten hier stehe, so ist mir der Untergang sicher«, dachte jeder. Dolochow riß sich aus der Masse los. »Fahre aufs Eis!« rief er einem Kanonier zu. »Es hält.« Das Eis trug ihn, bog sich aber und es war klar, daß es weder eine Kanone noch auch nur eine Menschenmasse tragen konnte. Die Leute blickten ihm ängstlich von fern aus zu. Der Oberst erhob die Hand und öffnete den Mund, um Dolochow etwas zu sagen, aber plötzlich flog eine Kanonenkugel so niedrig über die Masse hin, daß alle sich bückten. Der Oberst fiel in einer Blutlache vom Pferd, niemand blickte sich nach ihm um, keiner dachte daran, ihn aufzuheben.
»Aufs Eis! Aufs Eis!« schrien zahlreiche Stimmen, ohne zu wissen, warum. Eine der Kanonen fuhr aufs Eis und brach sogleich ein. Der Führer ließ sein Pferd im Stich, von hinten her schrien aber immer noch Leute: »Aufs Eis! Rasch, aufs Eis!« Man schlug auf die Pferde, um die Kanone herauszuziehen, ein großes Stück Eis senkte sich plötzlich herab, und etwa vierzig Mann ertranken und zogen einander hinab.
58
Auf derselben Stelle, auf den Höhen von Pratzen, wo er mit der Fahne in der Hand gefallen war, lag Fürst Andree leise stöhnend. Gegen Abend wurde er ganz still. Er wußte nicht, wie lange die Ohnmacht gedauert hatte, plötzlich aber fühlte er sich wieder lebendig und empfand einen brennenden Schmerz im Kopfe.
»Wo ist er? Wo ist er, dieser hohe Himmel, welchen ich bisher nicht gekannt habe und erst jetzt erblickte?« war sein erster Gedanke. »Aber wo bin ich?«
Er horchte und vernahm näherkommende Hufschläge und französische Worte. Er öffnete die Augen, konnte aber die Reiter noch nicht sehen.
Es war Napoleon mit zwei Adjutanten. Er besichtigte das Schlachtfeld und gab die letzten Befehle zur Verstärkung der Batterie, welche den Damm beschoß.
»Ein schöner Tod!« sagte Napoleon, als er Bolkonsky erblickte.
Fürst Andree begriff, daß von ihm die Rede sei, und hörte, daß man denjenigen; der diese Worte gesprochen hatte, Majestät nannte. Aber er interessierte sich nicht mehr dafür. Sein Kopf glühte, er fühlte, daß er stark blutete und sah über sich den hohen, fernen Himmel. Alles war ihm gleichgültig, wer auch vor ihm stehen mochte.
»Ah, er lebt noch«, sagte Napoleon, als er eine leise Bewegung des Fürsten Andree wahrnahm. »Man soll den jungen Menschen aufheben und zum Verbandplatz bringen!«
Nach diesen Worten ritt Napoleon dem Marschall Lannes entgegen, welcher den Hut abnahm und dem Kaiser zum Siege Glück wünschte.
Fürst Andree wurde fortgebracht. Bei jeder Erschütterung empfand er einen unerträglichen Schmerz. Sein Fieber verstärkte sich und er begann zu rasen. Gegen Abend flossen alle seine wirren Traumbilder in ein Chaos zusammen und verloren sich endlich in das Dunkel der Besinnungslosigkeit und des Vergessens, welches nach der Meinung des Leibarztes von Napoleon, Doktor Larray, aller Wahrscheinlichkeit nach zum Tode führen müsse.
»Dieser da ist nervös und gallig«, sagte Larray, »er wird nicht genesen.«
Fürst Andree wurde mit anderen hoffnungslos Verwundeten der Pflege der Einwohner überlassen.
59
Im Anfang des Jahres 1806 nahm Nikolai Rostow Urlaub und kehrte nach Hause zurück. Auch Denissow fuhr nach Hause, nach Woronesch, und Rostow überredete ihn, mit ihm nach Moskau zu fahren und einige Zeit in seinem väterlichen Hause zu bleiben. Auf der vorletzten Station traf Denissow einen Bekannten und trank mit ihm drei Flaschen Wein und deshalb lag er unbeweglich im tiefen Schlaf, als sie sich Moskau näherten, während Rostow immer mehr in Aufregung geriet.
»Denissow, wir sind da!« rief er, als sie beim Schlagbaum ankamen. »Er schläft! Da ist der Kreuzweg! Auch Sascha hat immer noch dasselbe Pferd an seiner Droschke! Hier ist auch der kleine Laden, wo wir Pfefferkuchen kauften! Nun schnell!«
»Nach welchem Haus?« fragte der Kutscher.
»Dort am Ende, in das große Haus! Siehst du denn nicht? Das ist unser Haus«, erwiderte Rostow. »Denissow, Denissow, wir sind gleich da!«
Denissow hob den Kopf auf, gab aber keine Antwort.
»Dmitri«, sagte Rostow zu dem Kutscher, »ist bei uns noch Licht?«
»Ja, Herr, auch im Kabinett des alten Herrn ist’s hell.«
»Ob sie sich schon schlafen gelegt haben, was meinst du? Vorwärts!« schrie er dem Kutscher zu. »Aber wache doch auf, Denissow!«
Endlich fuhr der Schlitten unter der Einfahrt vor. Wieder sah er über sich das bekannte Karnies von Stukkatur und den Laternenpfosten. Noch ehe der Schlitten hielt, sprang er heraus und eilte in die Vorhalle. Das Haus stand noch so unbeweglich wie immer, und es schien ihm ganz gleichgültig zu sein, wer ankam. In der Vorhalle war niemand.
»Mein Gott, ist auch alles wohl?« dachte Rostow und angstvoll eilte er weiter, die bekannte Treppe hinauf. Im Vorzimmer brannte eine Talgkerze, der alte Michail schlief auf einer Truhe. Prokofi, welcher so stark war, daß er einen Wagen am Hinterrad aufheben konnte, blickte nach der Tür und seine verschlafene Miene zeigte plötzlich freudigen Schrecken.
»Der junge Graf!« rief er. »Wirklich, mein Täubchen!«
»Ist alles gesund?« fragte Rostow.
»Gott sei Dank! Sie haben eben gespeist. Aber lasse dich ansehen, Erlaucht!«
»Ist alles ganz wohl?«
»Gott sei Dank! Gott sei Dank!«
Rostow hatte Denissow ganz vergessen. Er warf den Pelz ab und trat auf den Zehenspitzen in den dunklen,