Napoleon saß nachdenklich auf einem Feldstuhl. De Beausset, welcher hungrig geworden war, näherte sich dem Kaiser und lud ihn zum Frühstück ein. »Ich hoffe, daß ich Eurer Majestät schon jetzt zum Siege gratulieren kann?« sagte er.
»Gehen Sie zum …« sagte Napoleon finster und wandte sich ab, während ein wonniges Lächeln des Bedauerns, der Reue und des Entzückens das Gesicht des Herrn de Beausset erleuchtete.
Alle jene früheren Kunstgriffe, welche immer Erfolg hatten, die Konzentrierung der Batterien auf einen Punkt, der Angriff der Reserven zur Durchbrechung der feindlichen Linie und ein plötzlicher Angriff der Kavallerie, alle diese Kunstgriffe waren schon angewendet worden, und doch war der Sieg noch nicht errungen, sondern von allen Seiten kamen dieselben Nachrichten von gefallenen und verwundeten Generalen und von der Notwendigkeit von Verstärkungen und der Unmöglichkeit, die Russen zu werfen. Napoleon wußte nach seiner langen Kriegserfahrung sehr wohl, was es bedeutete, wenn eine Angriffsschlacht nach achtstündiger Anstrengung noch nicht gewonnen war. Er wußte, daß das eine verlorene Schlacht war, und daß der geringste Zwischenfall jetzt in dieser gespannten Situation ihm und seinen Truppen den Untergang bringen konnte. Die Russen konnten sich auf seinen linken Flügel stürzen, sein Zentrum durchbrechen, eine verlorene Kugel konnte ihn selber treffen. Alles das war möglich. Bei der Nachricht, daß die Russen den linken Flügel der Franzosen angreifen, saß Napoleon in stummem Schrecken auf seinem Feldstuhl. Berthier trat auf ihn zu und schlug ihm vor, die Linie entlang zu reiten, um sich vom Stande der Schlacht zu überzeugen.
»Wie? Was sagen Sie?« fragte Napoleon. »Ja, lassen Sie mir ein Pferd bringen.«
Er stieg zu Pferde und ritt nach Semenowskoje zu. Auf dem ganzen Wege erblickte Napoleon Pferde und Menschen haufenweise in Blutlachen liegend. Etwas so Entsetzliches, eine solche Menge von Toten auf einer so kleinen Strecke hatte weder Napoleon noch einer seiner Generale jemals gesehen. Napoleon ritt auf die Höhe von Semenowskoje und erblickte durch den Pulverrauch Reihen von Soldaten in ihm fremden Uniformen. Das waren Russen. Die Russen standen in festen Reihen bei Semenowskoje, und ihre Geschütze donnerten unaufhörlich. Es war keine Schlacht mehr, es war ein unaufhörliches Morden, welches weder für Russen noch für Franzosen ein Resultat bringen konnte. Einer der Generale erlaubte sich, dem Kaiser vorzuschlagen, die alte Garde ins Feuer zu führen. Ney und Berthier, welche neben Napoleon standen, sahen sich an und lächelten verächtlich über diesen unsinnigen Vorschlag.
»Dreitausend Kilometer von Frankreich entfernt, kann ich meine Garde nicht zertrümmern lassen«, sagte er, wandte das Pferd Und ritt zurück nach Schewardino.
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Kutusow saß auf einer mit einem Teppich bedeckten Bank, an derselben Stelle, an der am Morgen Peter gesessen hatte. Er traf keine Anordnungen und äußerte nur Zustimmung oder Ablehnung auf die Vorschläge, die man ihm machte. Er hörte die Meldungen an, gab Befehle, wenn dies seine Untergebenen verlangten, schien sich aber nicht für den Sinn der Worte, die man ihm meldete, zu interessieren, sondern eher für die Miene und den Ton, in dem man ihm die Meldungen überbrachte. Durch langjährige, kriegerische Erfahrung wußte er, daß ein einzelner Mensch nicht imstande ist, Hunderttausenden zu befehlen, welche mit dem Tode kämpften; er wußte, daß die Schlachten nicht durch die Zahl der Geschütze und der Toten entschieden wurden, sondern durch jene unfaßbare Macht, welche man den Geist der Truppen nennt, und diese Macht suchte er zu beobachten und zu lenken, solange er konnte. Sein Gesicht drückte ruhige, gespannte Aufmerksamkeit aus. Um elf Uhr morgens wurde ihm die Nachricht überbracht, die Schanzen, welche die Franzosen genommen hatten, seien wieder erobert worden, aber Fürst Bagration sei verwundet. Bedauernd wiegte Kutusow den Kopf.
»Ist es Eurer Hoheit gefällig, das Kommando der ersten Armee zu übernehmen?« wandte er sich an den Prinzen von Württemberg, der nahe stand. Bald nachdem der Prinz weggeritten war, kam der Adjutant des Prinzen und meldete, der Prinz lasse um Verstärkung bitten. Kutusows Miene verfinsterte sich. Er sandte Dochturow den Befehl, das Kommando der ersten Armee zu übernehmen, und bat den Prinzen, zu ihm zurückzukehren, da er in diesem wichtigen Augenblick nicht ohne ihn auskommen könne. Als die Nachricht von der Gefangennahme Murats überbracht wurde, und die Offiziere Kutusow beglückwünschten, lächelte er.
»Warten Sie nur, meine Herren«, sagte er. »Die Schlacht ist gewonnen, und es ist kein Wunder, daß Murat gefangen wurde, aber besser, wir warten noch ein bißchen, ehe wir uns freuen.« Doch sandte er einen Adjutanten ab, um den Truppen diese Nachricht mitzuteilen. Als Schtscherbinin vom linken Flügel mit der Meldung kam, die Franzosen hätten die Schanze bei Semenowskoje genommen, erriet Kutusow an Schtscherbinins Miene, daß seine Nachrichten nicht gut seien, stand auf und führte ihn beiseite. »Reite hin, mein Lieber«, sagte er zu Jermolow, »sieh nach, ob man nicht etwas tun kann!«
Kutusow war in Gorky im Zentrum der russischen Stellung. Die Angriffe Napoleons auf unseren linken Flügel wurden mehrmals abgeschlagen; im Zentrum kamen die Franzosen nicht weiter als bis Borodino, auf dem linken Flügel schlug die Kavallerie Uwarows die Franzosen in die Flucht. Um drei Uhr hörten die Angriffe der Franzosen auf. Auf allen Gesichtern las Kutusow den Ausdruck der höchsten Spannung. Er war über Erwarten befriedigt vom Erfolg des Tages, aber die physischen Kräfte verließen den Greis, mehrmals sank sein Kopf herab, und er schlummerte ein. Man brachte ihm das Mittagessen.
Während Kutusow speiste, kam der Flügeladjutant Wolzogen mit Meldungen von Barclay auf dem linken Flügel. Der kluge Barclay de Tolly, welcher Gruppen von fliehenden Verwundeten sah, kam nach Erwägung aller Umstände zu dem Schluß, die Schlacht sei verloren, und sandte seinen Günstling mit dieser Nachricht an den Oberkommandierenden. Kutusow kaute mühsam an einem gebratenen Huhn und blickte Wolzogen vergnügt an, welcher mit halb verächtlichem Lächeln auf Kutusow zutrat und nachlässig den Mützenschirm berührte.
»Der alte Herr«, wie die Deutschen unter sich Kutusow nannten, »hat sich ruhig niedergelassen«, dachte Wolzogen und begann mit einem strengen Blick auf die Teller, welche vor Kutusow standen, dem alten Herrn die Sachlage zu erklären, wie ihm Barclay aufgetragen und wie er sie selbst aufgefaßt hatte.
»Alle Punkte unserer Stellung sind in den Händen des Feindes! Unsere Truppen fliehen, und es ist nicht möglich, sie anzuhalten«, meldete er. Kutusow blickte Wolzogen erstaunt an.
»Haben Sie das gesehen?« schrie er mit finsterer Miene und schritt auf Wolzogen zu. »Wie können Sie es wagen …« schrie er mit drohender Gebärde, »mir das zu sagen! Sie wissen nichts! Sagen Sie dem General Barclay, seine Nachrichten seien falsch, und der wirkliche Gang der Schlacht sei mir, dem Oberkommandierenden, besser bekannt als ihm! Der Feind ist auf dem linken Flügel zurückgeschlagen, und auf seinem rechten erschüttert! Teilen Sie dem General Barclay meinen unerschütterlichen Entschluß mit, morgen den Feind anzugreifen. Morgen werden wir ihn von dem geheiligten Boden Rußlands vertreiben!« Kutusow bekreuzigte sich und schluchzte plötzlich. Wolzogen zuckte die Achsel und trat schweigend zur Seite, verwundert über »die Verrücktheit des alten Herrn«.
»Da ist er, mein Held!« rief Kutusow einem stark beleibten, schönen, schwarzhaarigen General entgegen. Das war Rajewsky, welcher den ganzen Tag auf dem wichtigsten Punkt des Schlachtfeldes gestanden hatte. Rajewsky meldete, die Truppen stehen fest, und die Franzosen wagen nicht mehr, anzugreifen.
»Sie sind nicht der Meinung wie die anderen, daß wir uns zurückziehen sollten?« sagte Kutusow französisch.
»Im Gegenteil, Erlaucht, in unentschiedenen Schlachten bleibt derjenige Sieger, der hartnäckiger ist«, erwiderte Rajewsky, »und meine Meinung …«
»Kaissarow!« rief Kutusow nach seinem Adjutanten. »Setze dich und schreibe einen Tagesbefehl für morgen. Morgen greifen