»Sie wurden von Ihrem Arzt in unsere Klinik eingewiesen, Frau Häußler«, erklärte er der jungen Frau. Es lag ihm auf der Zunge, ihr auch die Krankheit mit dem Namen zu nennen, aber im letzten Augenblick versagte er sich das. Das konnte sie noch rechtzeitig genug erfahren.
Wieder gab Christine keine Antwort.
Dr. Lindau ließ sich dadurch nicht sonderlich beirren. Mit ruhigen Worten teilte er der jungen Frau mit, was nun mit ihr geschehen würde. »Bekommen Sie erst einmal Ihr seelisches Gleichgewicht wieder«, sagte er. »Dann – vielleicht heute Nachmittag oder auch morgen – werden wir Sie röntgen und auch eine Untersuchung Ihres Blutes und des Knochenmarks vornehmen. Dann werden wir weitersehen. Haben Sie mich verstanden, Frau Häußler?«, vergewisserte er sich.
Diesmal reagierte Christine. Sie nickte aber nur.
»Gut.« Sinnend sah der Chefarzt den Kollegen Bernau an. »Ich überlasse die Patientin Ihrer Betreuung, Herr Bernau«, erklärte er. »Kümmern Sie sich um sie und um die eben genannten Untersuchungen! Die Berichte gehen dann direkt an mich! Die Behandlung und alle weiteren Maßnahmen besprechen wir danach.«
»Verstanden«, murmelte Dr. Bernau.
»Wir sehen uns später noch, Frau Häußler.« Dr. Lindau lächelte der Patientin freundlich zu und verließ das Krankenzimmer.
Dr. Bernau folgte dem Chefarzt auf den Gang. »Wann soll ich zu Ihnen kommen?«, fragte er.
»Weshalb? Ach ja …« Auffordernd blickte Dr. Lindau den Assistenzarzt an. »Also, dann machen Sie es kurz! Ich möchte mit der Visite beginnen. Was wissen Sie über die Patientin? In welcher Verbindung stehen Sie zu ihr, und wer ist Hannes?«
»Frau Häußler ist die Frau, deretwegen ich am Montag mit Verspätung in die Klinik kam«, erwiderte Dr. Bernau. »Ich berichtete Ihnen bereits von dem Zwischenfall auf der Landstraße.« Mit einigen knappen Sätzen schilderte er dann noch, dass er Christine Häußler ein paar Tage später wiedergesehen hatte – durch Zufall, wie er betonte – und dabei jenen Hannes kennengelernt hatte. Es war verständlich, dass er den peinlichen Vorfall im Heim für sich behielt.
»So ist das also.« Dr. Lindau nickte seinem Mitarbeiter zu. »In Ordnung«, murmelte er. »Wir sehen uns später bei der Konferenz.« Mit langen Schritten entfernte er sich und verschwand Sekunden darauf im Stationszimmer.
Dr. Bernau unterdrückte ein Gähnen und sah zu, dass er nun endlich in sein kleines Appartement kam, das sich in der obersten Etage des ehemaligen Schlosses, der jetzigen Klinik am See, befand. Er brauchte jetzt einige Stunden Schlaf.
*
Wenn Dr. Lindau geglaubt hatte, dass sich Christine Häußlers Teilnahmslosigkeit bald legen würde, so sah er sich schon einen Tag später getäuscht. Die Patientin reagierte kaum auf seine Fragen. Sie machte den Eindruck eines Menschen, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte, den nichts interessierte und der nur darauf zu warten schien, dass ein gnädiges Schicksal seinem Leben ein baldiges Ende setzte.
»Wann beginnen Sie mit den Untersuchungen, von denen wir gesprochen haben?«, fragte er Dr. Bernau.
»Die Patientin wird heute Nachmittag geröntgt«, erwiderte der Gefragte. »Die Blutanalyse wird in einer Stunde vorgenommen. Ich habe das Labor bereits informiert.«
»Vergessen Sie nicht eine Probe des Knochenmarks«, erinnerte der Chefarzt den jüngeren Kollegen. »Ich möchte wissen, mit welcher Art von Leukämie wir es zu tun haben.«
»Laut Doktor Pröll handelt …«
»Das ist mir bekannt, Herr Bernau«, fiel Dr. Lindau dem anderen ins Wort. »Aber die Frau ist jetzt unsere Patientin, und da möchte ich auch gern die Untersuchungsergebnisse unseres Labors. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich an der Diagnose Doktor Prölls Zweifel hege. Ich will nur die Bestätigung seiner Feststellung.«
»Ich verstehe«, murmelte Dr. Bernau.
»Noch etwas«, ergriff der Chefarzt sofort wieder das Wort. »Mir macht der Zustand der Patientin einige Sorgen.«
»Wegen der Temperaturschwankungen?«
»Nein, wegen ihrer Apathie«, erwiderte Dr. Lindau. »Ich fürchte, dass die junge Frau selbstmordgefährdet ist. Eine Wiederholung ist nicht auszuschließen.«
»Hier bei uns in der Klinik?«, fragte Dr. Bernau zweifelnd.
»Haben Sie eine Ahnung, auf was für Ideen Leute kommen, die ihr Leben beenden wollen«, gab der Chefarzt ernst zurück. »Ich wünsche deshalb eine verstärkte Kontrolle – um nicht gerade Überwachung zu sagen.«
»Ich werde es veranlassen«, versicherte Dr. Bernau.
»Ich verlasse mich auf Sie.« Dr. Lindau murmelte einen Gruß und fuhr hinunter in sein Büro.
»Sie werden bereits erwartet, Herr Doktor«, empfing Marga Stäuber ihren Chef.
»Von wem? Patienten?«, fragte der Chefarzt.
»Nein, von einem Doktor Göttler …«
Dr. Lindau stutzte. »Ist der schon hier?«, entgegnete er. »Ich hatte ihn erst in einigen Tagen erwartet.« Er sah die fragenden Blicke seiner Sekretärin und wusste, dass sie jetzt darauf brannte, zu erfahren, wer und was der Besucher war. Um seine Mundwinkel huschte ein Lächeln. »Ich weiß, Sie sind jetzt neugierig …«
»Aber, Herr Doktor, was denken Sie von mir?«, entfuhr es der Sekretärin. »Ich und neugierig.« Heftig schüttelte sie den Kopf. »Wenn ich etwas wissen muss, werden Sie es mir sicher von selbst sagen«, fügte sie hinzu.
»Vollkommen richtig, Stäuberlein«, gab Dr. Lindau schmunzelnd zurück. »Deshalb informiere ich Sie jetzt auch – Herr Doktor Göttler wird ein neuer Mitarbeiter. Zumindest für die Zeit, die Herr Bernau in München sein wird.«
»Aha.« Marga Stäuber sah den Chefarzt fragend an. »Da muss ich mich wohl verhört haben«, sagte sie.
»Verhört? Wie darf ich das verstehen?«, wunderte sich Dr. Lindau.
»Na ja, ich meine, dass Ihre Tochter, also Frau Doktor Mertens, etwas von einer Frau Doktor Bertram sagte«, erwiderte Marga Stäuber. »Und nun ist es plötzlich ein Mann.«
Dr. Lindau schmunzelte. »Sie haben schon richtig gehört«, klärte er seine Sekretärin auf. »In den nächsten Tagen bekommen wir auch noch eine Ärztin her. Eben jene Frau Doktor Bertram. Sie ist Kinderärztin und wird meine Tochter und meinen Schwiegersohn in der Kinderabteilung entlasten.«
»Ach, so ist das«, murmelte Marga Stäuber.
»Genau«, bestätigte Dr. Lindau und betrat sein Sprechzimmer. Der erste Eindruck, den er von dem dunkelhaarigen jungen Mann bekam, war nicht der schlechteste. »Herr Doktor Göttler?«, fragte er, obwohl er wusste, dass es sich um ihn handelte.
»Ja«, kam die Antwort. »Und ich habe die Ehre mit Chefarzt Doktor Lindau …«
Der Klinikleiter nickte und begrüßte den Arzt, den er auf Ende Zwanzig schätzte, mit einem festen Händedruck. »Willkommen in der Klinik am See, Herr Kollege, obwohl ich mit Ihrem Kommen erst in einer Woche gerechnet hatte.«
»Mein Vater meinte, dass ich …«
»Schon in Ordnung«, unterbrach Dr. Lindau den neuen Mitarbeiter lächelnd. »Wie geht es Ihrem Vater? Viel Arbeit?«
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Dr. Göttler. »Aber es geht ihm gut. Ich soll Ihnen herzliche Grüße übermitteln, und er würde sich freuen, wenn Sie ihn einmal aufsuchen würden.«
»Irgendwann wird sich das sicher einmal einrichten lassen«, gab Dr. Lindau zurück und wechselte das Thema. Minutenlang sprach er über die fachliche Seite des Tätigkeitsbereiches seines neuen Mitarbeiters, stellte etliche ebenfalls fachliche Fragen, auf die er auch befriedigende Antworten bekam, und kam dann zum Ende dieses Einstellungsgespräches. »Wann können oder möchten Sie beginnen?«, wollte er wissen.
»So