Ein kurzes, ein wenig hohnvolles Lachen war die Antwort. »So schnell stirbt es sich nicht, Christine«, kam dann wieder Horneggs Stimme durch die Leitung, kühl und abweisend. »Ist das vielleicht eine neue Masche, das mit dem Sterben, um mich wieder rumzukriegen, damit ich den anderen vergesse und …?«
»Es gibt keinen anderen«, schrie Christine verzweifelt. »Es ist auch keine Masche, wie du dich ausdrückst, Hannes. Ich habe wirklich nicht mehr lange zu leben, wenn das stimmt, was der Arzt festgestellt hat.« Christine fühlte ihre Kräfte schwinden.
Sekundenlang war Stille in der Leitung. Hans-Günther Hornegg überlegte anscheinend. Christines Worte schienen ihn doch ein wenig nachdenklich gemacht zu haben. Leider noch zu wenig, wie es sich schon Sekunden später erwies: »War das alles?«, fragte er mit heiser klingender Stimme. »Ich habe es nämlich eilig.«
»Du hast es eilig?« Stockend kam es über ihre Lippen. Sie hatte es hinausschreien wollen, aber es war nur ein Flüstern geworden. »Ich brauche dich, und du …, du hast es …« Die Stimme versagte ihr.
»Ja, dann – ich wünsche dir gute Besserung.« Das war Hans-Günther Horneggs einzige Reaktion. Es knackte in der Leitung, und dann war Stille.
Christines Bewegungen, mit denen sie ein Glas mit Wasser volllaufen ließ und die Schlaftabletten hineinschüttete, waren mechanisch, fast roboterhaft. Es war überhaupt fraglich, ob ihr voll bewusst war in diesen Sekunden, was sie tat. Der Gedanke an die Diagnose beherrschte ihr Tun und die maßlose Enttäuschung darüber, von dem Menschen, der ihr am nächsten stand, ignoriert und fallen gelassen worden zu sein. Das war zu viel für sie. Ihr Lebenswille streikte und sank tief ab. Tiefer ging es nicht mehr.
Mit einigen langen Zügen trank Christine das Glas mit den darin aufgelösten Schlaftabletten aus und schleppte sich dann ins Schlafzimmer. Mit einem ächzenden Laut auf den Lippen ließ sie sich aufs Bett fallen und schloss die Augen. Um sie versank alles. Das Denken fiel ihr schwer. Sie wollte auch gar nicht weiter überlegen, wollte nur vergessen. Eine fast wohltuende Leere begann sich mehr und mehr in ihrem Kopf auszubreiten. Nebelschwaden schienen um sie herum zu sein, und dann kam es ihr vor, als würde sie in eine unendliche Tiefe sinken, aus der es keine Wiederkehr gab.
Christine nahm nichts mehr wahr. Auch nicht, als später die Tür ihrer Wohnung aufgeschlossen wurde und ihre Nachbarin das Wohnzimmer betrat, ihren Namen rief und dann ins Schlafzimmer kam.
*
Bleich vor Schreck starrte Alma Wiese auf die junge Frau, die wie tot auf dem Bett lag. Sie ahnte Fürchterliches. Schon als sie vorher vergeblich an der Wohnungstür Sturm geläutet und mit den Fäusten geklopft hatte. Doch da war ihr im letzten Augenblick eingefallen, dass sie ja noch den Wohnungsschlüssel besaß.
Alma Wiese versuchte nun ganz kurz, Christine zu rütteln. Sie rief sie beim Namen, obwohl sie erkannte, dass das zwecklos war.
»Mein Gott, was hat sie getan?«, murmelte sie, überlegte nicht länger und lief zum Telefon.
Sekunden darauf hatte sie auch schon die Rettungsstelle in der Leitung. »Den Notarzt bitte sofort«, rief sie und nannte die Adresse.
»In fünf Minuten sind wir dort«, kam die Entgegnung.
Obwohl nicht einmal fünf Minuten bis zum Eintreffen des Notarztes vergingen, war es Alma Wiese wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Der Rettungsarzt hielt sich erst gar nicht lange bei einer Untersuchung der bewusstlosen Christine auf. Das leere Röhrchen, das ihm von Alma Wiese gezeigt wurde – sie hatte es im Badezimmer gefunden – sagte ihm genug. In höchster Eile wurde die kaum noch atmende Christine in den Rettungswagen gebracht und auf schnellstem Wege zu der nächstgelegenen Klinik, und das war die Klinik am See, gefahren.
Es war Dr. Bernau, der schon bereit stand und die Patientin übernahm. Per Funk war er vom Notarzt schon verständigt worden.
Dr. Bernau bekam runde Augen, als er die junge Frau, die allem Anschein dem Tod näher als dem Leben war, als die Heimleiterin erkannte. »Das …, das ist doch Frau Häußler«, entfuhr es ihm verblüfft.
»Stimmt«, bestätigte der Rettungsarzt, »Christine Häußler aus Schliersee. Wir wurden gerufen.« Er hielt dem Klinikarzt das mitgebrachte leere Tablettenröhrchen hin. »Tablettenvergiftung«, erklärte er kurz. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
Dr. Bernau gab keine Antwort. Hastig untersuchte er die Patientin, die von einer Schwester den Oberkörper freigemacht bekam, kontrollierte Herztätigkeit und den Kreislauf und stellte darauf sofort sein Handeln ein. »Sofort in den kleinen OP!«, befahl er der Schwester, die gemeinsam mit einer Kollegin Christine auf eine fahrbare Trage legte und diese dann auch gleich in die erste Etage fuhr. »Bereiten Sie auch schon alles zum Magenauspumpen vor!«, rief Dr. Bernau den beiden Schwestern nach. »Ich komme sofort nach.« Er verabschiedete den Notarzt mit einigen kurzen Worten und folgte den schon vorausgeschickten Schwestern im Personenaufzug.
Es dauerte nur wenige Minuten, alles Notwendige für das Auspumpen des Magens vorzubereiten. Das machten die beiden Schwestern. Dr. Bernau gab der Patientin vorher noch ein kreislaufstärkendes Mittel und injizierte außerdem einen Anreger für die Herztätigkeit. Er wusste, dass die junge Frau bereits am Beginn eines Todesschlafes war. Höchste Eile war also notwendig.
»Bereit zur Magenentleerung, Herr Doktor«, meldete da die Schwester. »Wir können beginnen.«
Dr. Bernau schüttelte den Kopf. »Warten Sie noch«, stieß er hervor. »Ich versuche es zuerst mit dem Erbrechen, das geht schneller«, brummte er. »Hoffentlich.« Dazu brauchte es keiner komplizieren Hilfsmittel. Man brauchte auch nicht unbedingt die Medizin studiert zu haben, um zu wissen, wie man einen Menschen zum Erbrechen bringen konnte. Und Dr. Bernau wusste es. Er handelte auch sofort danach.
Seine Annahme war richtig. Nur wenige Sekunden dauerte es, und diese klassische Methode half. »Helfen Sie mir, die Patientin aufzurichten!«, rief er den beiden Schwestern zu, die sich auch sofort um die immer noch bewusstlose Patientin bemühten und sie in sitzende Stellung brachten. Noch einen Versuch startete Dr. Bernau und – er hatte Erfolg.
Alles Weitere war dann nur noch Routinesache. Erleichtert atmete er auf, als er bemerkte, dass Christine Häußler langsam wieder zu sich kam. Sekundenlang schlug sie sogar die Augen auf, schloss sie dann aber gleich wider. Ein abgrundtiefer Seufzer entrang sich ihrer Kehle, dem ein lang gezogenes Seufzen und ein schwaches Stöhnen folgte.
Dr. Bernau versagte es sich, Fragen zu stellen, obwohl er nur zu gern gewusst hätte, weshalb diese junge Frau hatte aus dem Leben scheiden wollen. Es stand für ihn jedenfalls fest, dass Christine Häußler eben einen Selbstmordversuch glücklich überstanden hatte, und das buchstäblich in letzter Minute.
»Weshalb hat sie das getan?«, konnte sich die Schwester die Frage nicht verkneifen. »Es war doch ein Selbstmordversuch, Herr Doktor? Oder?«
Dr. Bernau nickte. »Ich kenne den Grund nicht«, entgegnete er. »Befragen können wir die Patientin jetzt aber nicht, denn wie Sie selbst sehen, ist sie nicht ansprechbar. Sie braucht jetzt Ruhe. Bringen Sie sie in ein Bett! Einzelzimmer, wenn wir eines frei haben.«
»Haben wir«, gab die Schwester zurück.
»Gut, dann los!« Dr. Bernau trat zum Waschbecken. »Ich möchte, dass die Patientin in dieser Nacht alle fünfzehn Minuten kontrolliert wird«, rief er den beiden Schwestern nach, die Christine Häußler wieder auf die Trage gelegt hatten und sie nun hinausfuhren. »Wenn etwas ist, möchte ich sofort gerufen werden. Natürlich werde ich auch selbst noch ein paarmal nachsehen.«
Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, ging er zunächst ins Stationszimmer, trug im Rapportbuch alles ein und verschwand dann in seinem Dienstzimmer, um sich ein wenig hinzulegen. Immerhin lag noch der ganze Nachtdienst vor ihm, und da konnten ein paar Minuten der Ruhe nur gut tun.
Eine ganze Weile dachte er über Christine Häußler nach und grübelte vor sich hin. Ihn interessierte es wirklich