Stanislaw Przybyszewski: Romane, Erzählungen & Essays. Stanislaw Przybyszewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stanislaw Przybyszewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027205639
Скачать книгу
schlaf ...

      – Ja.

      Er setzte sich ihr gegenüber.

      Nun war sie sein Weib. Nun war er glücklich.

      An Mikita dachte er fast nicht. Sonderbar, wie wenig er sich um ihn kümmerte. Aber wenn ... o Gott, man geht zu Grunde, weil man keine Lebensfähigkeit hat, weil es an eigentlichen Lebensbedingungen mangelt, also, weil man zu Grunde gehen muß; daran ist doch kein Mensch schuld.

      Wäre er zu Grunde gegangen? Nein! Seine Qual war etwas ganz Anderes. Das waren die Fieberparoxysmen, die den großen Willen erzeugten. Ja: er verstand es plötzlich. Wie solle er das nur sagen? Der neue Wille – der Wille, der aus den Instinkten geboren wird – der Wille ...

      Hm, wie sollte er das nur sagen? Der Wille der Instinkte, der durch keine bewußten Schranken, durch keine atavistischen Gefühle gehemmt wird ... der Wille, bei dem Instinkt und Gehirn eins geworden ist.

      Er mußte noch leiden, weil er ein Übergangsmensch war, er fieberte noch, weil er das Gehirn überwinden mußte. Aber er wird nicht leiden, wenn er das Stück posthumer Vergangenheit, die atavistischen Überbleibsel in sich überwunden hat.

      Plötzlich lachte er leise in sich hinein.

      Gott, Gott, dieses dumme, idiotische Raisonnieren. Dies blödsinnige Schwatzen von neuem Willen und dergleichen Dinge. Am Ende wird er sich noch für einen Übermenschen halten, weil er, – nun weil sein Geschlecht so rücksichtslos war, und weil sie ihm aus Liebe folgte.

      Am Ende wollte er sich doch wohl nur ein Bißchen betäuben ...

      Blödsinn!

      Er sah sie an. Sie war sein, sie war sein, weil sie sein sein mußte ... Und sie fahren ins Glück hinein ...

      Er trat ans Fenster.

      Er sah Bäume und Felder und Stationsgebäude vorüberfliegen.

      Das Alles wird dein sein, wenn nur dieser neue Wille da ist, der Wille der Instinkte, die durch das Gehirn geheiligt werden.

      Er dachte an Napoleon.

      Nein! Das war nicht das. Das war der Wille eines fanatischen Epileptikers – eines ...

      Sonderbar, daß er unwillkürlich nach Beispielen ähnlicher Rücksichtslosigkeit immer von Neuem suchte ...

      Das waren nur wohl die Überreste von seinen Qualen, die er durchgemacht hatte. Jetzt hat er das Glück und er wird es genießen.

      Und er reckte sich hoch in dem Gefühle seines großen Glückes, das er sich durch seinen Willen errungen hatte.

      Alles Übrige lag hinter ihm als ein Erlebnis, ein starkes, mit Blut gefülltes Erlebnis, ein Vorwurf, ein Stoff zu einem großen, erschütternden Seelendrama.

      Sie schien zu schlafen.

      Das war das Weib, das er nicht kannte. Er brauchte es aber nicht zu kennen. Wozu denn? Er hatte sie jetzt, er hatte sie einem Anderen abgerungen.

      Er war der Elch ... nein! das war zu tierisch. Die Vorstellung von den Eingeweiden, die zerrissen am Geweihe hingen, war ihm peinlich.

      Mit aller Macht wehrte er sich gegen eine Riesenmasse von peinlichen, unangenehmen Gefühlen ... He, he ... als hätte Jemand in ein Wespennest gestochen.

      Aber er beruhigte sich wieder.

      Das Alles mußte so geschehen. Sonderbar, daß er immer wieder in die alten Vorstellungen vom freien Willen verfiel, von einem Willen, der handeln kann ...

      Und jetzt – jetzt ... Wo trieb es ihn nun hinein?

      Ins Glück! In ein endloses Glück voll von neuen, ungekannten Freuden und Genüssen ...

      Oh, wie stolz, wie glücklich, wie mächtig er sich fühlte.

      Und der Zug raste und raste ... An den Fenstern flogen Häuser, Dörfer und Städte vorbei und ganz tief am Himmel glühte in trübem, violettem Licht ein Stern ...

      Unterwegs

       Inhaltsverzeichnis

      Meinem Freunde

       Julius Meier-Graefe gewidmet

      I.

       Inhaltsverzeichnis

      Fräulein Marit Kauer saß und freute sich.

      Also doch; endlich. Sie hatte schon völlig die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wiederzusehen. Mindestens zehnmal hatte er seiner Mutter geschrieben, daß er kommen würde: morgen, übermorgen. Dann hatte er wieder so unerhört viel zu tun gehabt, daß er erst im nächsten Monat kommen wollte. Dann verging noch ein Monat und noch einer. Aber endlich: jetzt wirklich.

      Heute war der kleine Bruder aus der Schule gekommen und erzählte unter tausend dummen Dingen, daß Herr Falk, ja, ganz bestimmt Herr Erik Falk, da sei. Ja, ganz sicher: er sei da. Er lasse die Eltern grüßen und werde sich erlauben, sie am Nachmittag zu besuchen.

      Fräulein Marit hatte die Sprache für ein paar Sekunden verloren; nein, sie konnte es noch gar nicht glauben.

      Gott, wie sie gelitten hatte! Sie war fast von Sinnen gekommen während der gräßlichen Zeit, als er nicht kommen konnte oder nicht wollte. Ihre ganze jungfräuliche Würde hatte sie ja geopfert; sie hatte sich so weit erniedrigt, Briefe an ihn zu schreiben, heiße Bitten an ihn zu richten.

      Freilich hatte sie es nur im Auftrag seiner Mutter getan, aber war er denn so dumm, daß er diese Sehnsucht, die in jedem Worte zitterte, nicht verstand?

      Wollte er nicht verstehen?

      Sollte es wahr sein?

      Nein, um Gotteswillen, nein. Es war Lüge, schamlose Lüge. Diese furchtbaren, garstigen Geschichten: er sollte einen Sohn haben, er hätte sich im Stillen verheiratet, eine Zivilehe mit einer Französin geschlossen.

      Nein! Er war ja so ehrlich, so souverän. Er hätte ihr sicherlich etwas davon geschrieben; so betrügen konnte er sie nicht. Hatte er ihr nicht von Liebe gesprochen?

      Hatte er ihr nicht versichert, daß sie allein, nur sie allein ihm das große Glück geben könnte?

      Nein, es war Lüge; er war ja so unendlich edel und so fein ...

      Ihr Herz begann sehr stark zu schlagen. Sie atmete tief auf. Die Augen fingen an zu tränen. Ein wildes Jubelgefühl stieg in ihr auf: noch eine Viertelstunde vielleicht, dann würde sie ihn sehen, in seine rätselhaften Augen sehen und auf seine wunderlichen Reden hören. Wie sie ihn liebte, wie unsäglich sie ihn liebte ...

      Gott hatte sie erhört. Drei Messen hatte sie gekauft, daß er ihn ihr wieder zuführen möchte. Wie ein armes Tier hatte sie zu den Füßen des Gekreuzigten gelegen und hatte gefleht und geweint und gebetet. Wollte sie der himmlische Vater denn nicht erhören? Hatte sie ihn beleidigt?

      Und sie fastete doch jeden Freitag und jeden Sonnabend, um Buße zu tun für die Sünden, die sie nicht kannte. Aber selbst der Gerechte sündiget ja siebenmal am Tage. Und vielleicht: war nicht ihre Liebe eine Sünde? Aber nein: jetzt war Falk ja da! Gott hatte sie erhört ...

      Sie stand auf. Es war so drückend unter der Veranda. Der ganze Garten war so schwül. Sie trat auf die Landstraße, die in das benachbarte Städtchen führte. Von dort mußte Falk kommen.

      Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper; sie fühlte, wie sich ihr das Blut zu Herzen staute. Sie zitterte.

      Ja, sie sah ihn deutlich. Er war es ganz gewiß.

      Sie klammerte sich an den Zaun. Es stieß sie, ihm entgegenzulaufen, sich ihm an die Brust zu werfen.

      Nein, nein, nicht! Nur ihm zeigen,